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Das Fenster im Fenster nach Europa

Skandinavisches Design, Milchkaffee mit Kokosmilch, mintgrüne Rennräder: Ist Sevkabel Port in St. Petersburg nur der nächste Hotspot für Hipster oder steckt mehr hinter dem Kreativwirtschaftszentrum? Am Meer richten junge Russinnen und Russen den Blick nach Westen.

Von
Anne-Kathrin Jeschke

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Ein altes Industriegelände, Werkshallen, ein Backsteinbau. Sevkabel Port, ein Kreativzentrum ganz im Osten von St. Petersburg. Dahinter nichts als das Meer.

Atmosphärische Klänge wabern aus einer der Hallen. Das Meer rauscht, Muscheln singen. Geräusche der See bäumen sich auf. Grüne Stahlträger zerschneiden die zugige, fast leere Fläche im Untergeschoss. Sie stützen das obere Stockwerk, aus dem die Soundinstallation hinunterhallt.

Über eine Holztreppe gelangen Besucherinnen und Besucher nach oben. Doch halt, erst das Handgelenk, Fieberkontrolle: Noch ist Pandemie, auch wenn St. Petersburg das im Alltag nur zu gut zu ignorieren weiß.

HYDRA. In riesigen Buchstaben steht der Name der Ausstellung angeschrieben. Hydra heißt Wasser. Doch Hydra ist auch ein vielköpfiges Ungeheuer der griechischen Mythologie. Verliert es einen Kopf, wachsen ihm zwei neue. Eine Metapher auf die Naturkatastrophen dieser Zeit.

Internationale Künstlerinnen und Künstler widmen sich in ihrer Medienkunst dem Klima und der Umwelt. Eine Armada aus Muscheln aus recyceltem Plastik bildet einen Chor: Der italienische Künstler Marco Barotti wandelt Daten von Sensoren, die Wasserqualität messen, in Töne um. In Echtzeit vertont er die Wasserqualität der Großen Newa, da draußen vor dem Hallentor. Die Plastikmuscheln singen.

Foto: Anne-Kathrin Jeschke

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Klänge der Ausstellung

Qualle 1

Qualle 2

Qualle 3

Hydra Muscheln



In einem abgedunkelten Raum schwimmen Quallen in leuchtend blauem Wasser. Besucherinnen und Besucher sitzen wie hypnotisiert von dem Guckloch. Sie tragen Kopfhörer: „Quallen sind die Letzten, die noch übrig sein werden, wenn alles andere zerfällt“, erfahren sie in russischer und englischer Sprache.

Seit mehr als 670 Millionen Jahren lassen sich Quallen durch die Weltmeere treiben. Dabei kommt ihnen fast alles, was das Ökosystem schädigt, gelegen. Weil Meere überfischt sind, haben sie weniger Fressfeinde. Weil das Wasser wärmer wird, brüten sie länger, während anderen Meerestieren der Sauerstoff knapp wird. Hinter der Quallen-Installation steckt das Rimini Protokoll, ein Berliner Künstlerkollektiv.

Daniela: „Ein Ort, wie es ihn sonst kaum gibt“

Daniela ist an diesem kalten Oktobertag schon zum zweiten Mal in dieser Woche nach Sevkabel Port gekommen. Eineinhalb Stunden Fahrt. Bus, Metro, dann wieder Bus. Sie will die Ausstellung noch einmal in Ruhe ansehen. Zwei Tage zuvor war sie mit ihrem zweijährigen Sohn gekommen. Die Lautstärke, die Dunkelheit, die Lichtblitze, das war zu viel. Aber das Thema ist wichtig – für Daniela und erst recht für die nächste Generation.

Russland ist weltweit der viertgrößte Emittent von Treibhausgasen – und das Land besonders stark von den Folgen der Klimaerwärmung betroffen. In der Tagesschau erklärte Wassilij Jablokow von Greenpeace Anfang November, dass die Erwärmung in Russland 2,8 mal so schnell voranschreite wie in der restlichen Welt. Trotzdem reiste Präsident Wladimir Putin nicht zum Klimagipfel in Glasgow. Bis 2060 werde sein Land CO2-neutral, kündigte er diesen Herbst an. Viel zu spät, kritisieren Umweltaktivistinnen und -aktivisten.

Das Bewusstsein junger Russinnen und Russen für den Klimawandel wächst zwar. Von einer Bewegung wie Fridays for Future sind die jungen Menschen dort jedoch weit entfernt. Hydra legt den Finger in die Wunde – und zeigt, dass die Zeit drängt.

Sevkabel Port ist ein besonderer Ort, sagt Daniela. Ein Ort für junge, offene Menschen, wie es ihn sonst kaum gibt in dieser Stadt, in diesem Land. „Jedenfalls bislang.“ Bevor sie sich Hydra ansieht, zieht es die Frau in der pinkfarbenen Felljacke ans Meer.

Bevor sie sich das Kulturprogramm gibt, zieht es die Frau in der pinkfarbenen Felljacke ans Meer. Das Umfeld ist rau hier auf der Wassiljewski-Insel: rauchende Schlote, Industriekräne und rostige Kane. Im Nordosten eine Brücke, so weit der Blick reicht. Ihre Lichter verschwimmen in der Dämmerung.

Wandhohe Murals schmücken die zugige Industriehalle, in der an Wochenenden ein Club öffnet. Im Backsteingebäude gegenüber liegen kleine Läden und Büros von Start-ups.

Foto: Anne-Kathrin Jeschke

Foto: Anne-Kathrin Jeschke

Foto: Anne-Kathrin Jeschke

Foto: Anne-Kathrin Jeschke

Foto: Anne-Kathrin Jeschke

Schon ab dem 19. Jahrhundert produzierte das Unternehmen Sevkabel hier Kabel. Während der Belagerung im zweiten Weltkrieg produzierte Sevkabel mehr als 100 Kilometer Unterseekabel, um die Stadt mit Energie zu versorgen.

Das Unternehmen gibt es immer noch, der Standort direkt am Meer aber liegt still. Ab 2017 sanierte ein Investor die Gebäude. Der will jedoch geheim bleiben, erklärt seine Mitarbeiterin in der Verwaltung.

Was ist Sevkabel Port eigentlich?

Sevkabel Port ist ein öffentlicher Raum in Gavan, dem Hafenviertel der Wassiljewski-Insel, also dort, wie die Stadt auf das Meer trifft. Ursprünglich befand sich auf dem Gelände das Werk Sevkabel, es erstreckte sich auf beiden Straßenseiten der Koschewennaja linija.

Im Zuge einer Modernisierung hat das Werk einen Teil seiner Kapazitäten auf die gegenüberliegende Straßenseite verlagert. Somit wurde dieses Areal frei und man beschloss, es als öffentlichen Raum zu nutzen.

Anfangs fanden hier nur kleine Veranstaltungen statt. Später öffnete das Projekt an den Wochenenden, seit Herbst 2018 steht es Besuchern immer offen.

Auf dem Areal haben sich über 100 Mieterinnen und Mieter niedergelassen. Außerdem verstehen wir es als eine Art „Ereignisfabrik“: Das ganze Jahr über finden hier sehr viele Veranstaltungen statt, im Winter gibt es eine Eisbahn, im Sommer pendeln Ausflugsboote zwischen der Stadt und uns.

„Never for money, always for love”

Einer der Mieter ist der Besitzer eines Fahrradladens. Sein Geschäft ist an die große Ausstellungshalle angebaut, ein gläserner Kasten, auffällig schicker Laden der Marke Electra. Zwei Deutsche gründeten sie Anfang der 90er Jahre in Kalifornien. Auf das Dach ist eine Reihe Räder montiert. Im Schaufenster leuchtet Neonschrift. „The Bike you Like“ in Pink. „You Rock. Let’s Roll“ in Hellblau. Auch Anton, der die Filiale leitet, trägt einen Spruch auf der Brust seines grauen Kapuzenpullis: „Never for money, always for Love.“

Könnte das Motto sein für seinen Job in dieser Stadt. Denn um die Liebe zum Fahrrad ist es in St. Petersburg noch nicht so gut bestellt. Es ist schwer, den Petersburgern Räder zu verkaufen, erzählt Anton. In der Innenstadt sieht man in diesen kalten Oktobertagen nur wenige Lieferanten und Kuriere. In todesmutigen Manövern schlängeln sie sich zwischen den Autos entlang. Radwege gibt es fast nirgends. Gibt es sie doch, parken Autos darauf.

„Im Zentrum ist Radfahren zu gefährlich“, sagt Anton. „Russen kennen die Radkultur nicht, sie respektieren uns Radfahrer nicht.“ Erst neulich, als er im Taxi saß, beschimpfte der Fahrer einen Mann auf dem Rad. Antons Stimme klingt monoton, als habe er sich längst mit all dem abgefunden. Dabei hofft er auf Veränderung.

Anton träumt von Kopenhagen, von Utrecht oder Münster. Er kennt die Bilder und Geschichten aus den europäischen Fahrradmetropolen. Vom Boom während der Pandemie. Ein Freund von ihm arbeitet bei einem Radhersteller in Frankfurt. Das Problem: Die Petersburgerinnen und Petersburger nutzten das Fahrrad nicht als Verkehrsmittel, sondern – wenn überhaupt – nur zum Vergnügen. Und sowieso nur, wenn’s warm ist und trocken. Was hier selten vorkommt. Anton fährt oft mit dem Rad zur Arbeit, elf Kilometer, 40 Minuten. Gen auso lang braucht er mit der Bahn.

Seine Kunden sind eher älter. So ab 40, gehobene Mittelschicht. 30.000 Rubel kostet das günstigste Modell, 365 Euro. Es sind mintfarbene Rennräder darunter, elegante Hollandräder mit weißen Schwalbe-Reifen und hellbraunen Ledersatteln stehen aufgereiht und auffällig viele Chopper mit ihren breiten Reifen und niedrigen Sitzen – die Harleys unter den Fahrrädern.

Ein paar berühmte Russen, fahren Electra, sagt Anton. Der Fernsehmoderator Iwan Andrejewitsch Urgant habe sogar fünf, sechs Räder gekauft – für die ganze Familie. Andrejewitsch Urgant ist gerade bei jungen Russinnen und Russen sehr beliebt. Anton klingt jetzt wie der Markenbotschafter seiner Firma.

Auch Vladimir Putin, sagt er noch, besitzt ein Electra.

Kokosmilch und skandinavisches Design

Die jungen Leute, die hier arbeiten, vereint die Orientierung Richtung Westen. Im Secret Garden hängt ein Dschungel aus Blumen von der Decke. Es gibt veganes Essen und Kokosmilch im Kaffee. Nach Alternativen zur Kuhmilch muss man in anderen Teilen der Stadt teils lange suchen.

„Unser Kindergeschäft ist ganz anders als andere. Es gibt in jedem Regal etwas Besonderes: was Handgemachtes, was in schlichtem Design. Dinge, die Kreative über Instagram anbieten. Vieles stammt von Künstlerinnen aus St. Petersburg oder Moskau. Aber es ist schon noch eine Herausforderung, weil es ganz anders ist als all das, das in typischen Kinderläden angeboten wird. Meine Chefin hat bei einer Reality Show mitgemacht, in der sie ihren Posten mit dem Chef einer Kette tauschte. Er hat unser ganzes Sortiment ausgetauscht gegen gewöhnliche Ware. Als die Show vorbei war, haben wir das sofort rückgängig gemacht. Wir haben Stammkunden, die das hier zu schätzen wissen. Für mich fühlt sich das hier nicht nach Arbeit an, sondern wie ein zweites Zuhause.“

Alexandra, 38, Angestellte des Kindergeschäfts

„Ich wollte keinen Laden für Hipster eröffnen, sondern ein Café, das für jeden zugänglich ist. Meine Stammgäste sind vor allem Freiberufler, die mit ihrem Laptop zum Arbeiten herkommen. Es gibt super viele Cafés in St. Petersburg, aber mir hat dort oft die Qualität gefehlt. Eigentlich habe ich Regie und Schauspiel studiert. Aber während des Studiums arbeitete ich als Barista, das hat mir total Spaß gemacht. Und dann habe ich Sevkabel Port entdeckt – einen Ort, wie es ihn vorher nicht gegeben hat in unserer Stadt. Ich hatte Lust, etwas eigenes zu machen. Die Miete ist zwar unglaublich teuer – aber immer noch günstiger als mitten im Zentrum.“

Valentina, 23, Inhaberin des Café Most. Sie war zu müde von der vielen Arbeit, um sich fotografieren zu lassen.

Europäischer Ort mit russischer Seele

Auch Wladimir ist an diesem frühen Abend ins Café MOST gekommen. Die Wände sind mintgrün, die verspiegelte Bar erinnert an ein Raumschiff. Zwei junge Frauen trinken Wein, ein junger Mann sitzt am Laptop. Sonst ist es ruhig mitten in der Woche.

Wladimir hängt oft am Sevkabel Port rum. Er wohnt ganz in der Nähe, hat den Wandel verfolgt, vom hässlichen Industriegebiet zu einem Ort, „an dem man die Freiheit spürt“.

Er ist auf der Wassiljewski-Insel aufgewachsen, ging hier zur Schule und auch seine Uni liegt auf dieser Seite von St. Petersburg. Die Verbindung zum Zentrum wird nachts gekappt. Dann klappen die Brücken hoch, damit große Schiffe über die Newa gleiten können.

„Es gibt keinen Grund, die Insel zu verlassen“, findet Wladimir. Erst recht nicht, seit es Sevkabel Port gibt. Er ist 21, studiert Französisch und Italienisch. Sein Englisch ist sehr gut. Und doch verfällt er manchmal ins Russische, wenn er von der Seele dieses Ortes schwärmt. Sevkabel Port stille den Durst junger Russinnen und Russen nach Europa.

„Hier rumzuhängen fühlt sich an, wie Teil von etwas Modernem zu sein“, sagt Wladimir. Für ihn ist Sevkabel Port ein Ort „nach europäischem Geschmack mit russischer Seele, russischer Mentalität”.

„Für St. Petersburg hat das Wasser ganz große Bedeutung“, erklärt er. Hier im Port spüre er, was die jungen Russinnen und Russen für Träume haben: Sie suchen kreative Räume und wollen sich selbst finden. Über Netflix und soziale Medien sehen sie, was Gleichaltrige in Europa machen. „Auch wir wollen unsere Wünsche und Pläne umsetzen.“ Keine Angst mehr vor der Zukunft haben. „Hier in Russland weiß man nie, was morgen passiert. Es gibt keine Sicherheit.“

Im Alltag sind sie frei, sagen die jungen St. Petersburger. „Und doch sehen wir, dass die Europäerinnen und Europäer in unserem Alter noch viel freier sind.“ Sie machten sich viel weniger Gedanken darüber, was andere von ihnen denken. „Viele von uns reden zum Beispiel nicht über Politik, weil sie Angst haben, was die anderen denken.“ Wladimir aber weiß, wie seine Freundinnen und Freunde zur Politik stehen.

Viele russische Jugendliche bewerten die Lage in Europa besser als in Russland, sagt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung: die Wirtschaft, die Freiheit, die Rechtsstaatlichkeit. Doch nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen glaubt, dass die Beziehungen zwischen Russen und Europäern wirklich freundlich werden können.

„Wir wollen weg von diesem Stereotyp“, sagt Wladimir: „weg davon, dass Russland ein gewalttätiges, grausames Land ist, das jederzeit bereit ist, andere Staaten anzugreifen.“

Auch wenn sie sich Wandel wünschen: Der Studie zufolge vertrauen 42 Prozent der jungen Russinnen und Russen dem Präsidenten. Uns gefällt die Idee von Demokratie zwar, sagt Wladimir. „Und doch braucht es eine gewisse Form von Kontrolle.“ Ohne Putin, fürchtet Wladimir, bricht in Russland Chaos aus.

Anne-Kathrin Jeschke

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