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Der Brunnen des Bitcoin

Sie hören ständig von Bitcoin, von Kursexplosionen und einer Revolution im Finanzsystem – aber eigentlich wissen Sie nicht, was Bitcoin ist? Da sind Sie nicht alleine. Sogar in einer der größten Bitcoin-Farmen der Welt verstehen die meisten Mitarbeiter den Bitcoin nicht.

Von
Yves Bellinghausen

I

In einer verschneiten Industriebaracke im Nordwesten von Russland steht Sergej zwischen zwei langgezogenen Regalreihen voller Hochleistungscomputer und grübelt darüber nach, was diese Computer eigentlich genau ausrechnen.

„Well…“, setzt er an, holt sein Handy raus und googelt Begriffe wie Network Difficulty, Sha256 oder Root-Hash. Sergej könnte jetzt alles erzählen – der Reporter würde es ohnehin nicht verstehen. Aber Sergej sagt: „So ganz genau weiß ich auch nicht, was die Computer da machen.“

Sergej ist Netzwerkadministrator von CryptoUniverse und in einem normalen Unternehmen wäre das ein kleiner Skandal: ein Netzwerkadministrator, der nicht weiß, was seine Computer machen? Aber CryptoUniverse ist kein normales Unternehmen. CryptoUniverse schürft Kryptowährungen wie Etherium, Litecoin und Bitcoin – ja genau, Bitcoins werden geschürft.

Sergej hat sich die Jacke ausgezogen, so viel heiße Abluft blasen die Computer in die Halle. Sie laufen 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, denn diese Computer sind keine normalen Computer: Es sind sogenannte Asic-Miner – Schürf-Computer, die darauf spezialisiert sind, Bitcoins zu schürfen. Sie verdienen Geld.

Aber, was soll das eigentlich genau heißen: Bitcoins schürfen?

„Well…“, setzt er wieder an, „das ist etwas kompliziert.“ Wieder holt Sergej sein Handy heraus. Aber nicht, weil er keine Ahnung von Computern hat: Sergej studierte Chinesisch und Informatik in Wladiwostok – am anderen, dem pazifischen Ende Russlands. Nach dem Studium kam er nach Sankt Petersburg. Er arbeitete als Systemadministrator bei einem Essenslieferdienst.

In seiner Freizeit schürfte er auf seinem Laptop Kryptowährungen. Kleine Mengen, eigentlich nur zum Spaß – bis das Jobangebot kam: eine der größten Bitcoin-Farmen der Welt sucht einen Systemadministrator. In dem verlassenen Ort Nadvoitsy, 10 Zugstunden nördlich von Sankt Petersburg, nahe dem Polarkreis. Sergej nahm an.

Seitdem ist er Systemadministrator und IT-Chef der Bitcoin-Farm in Nadvoitsy – der wahrscheinlich größten Bitcoin-Farm Russlands und wahrscheinlich vierzehntgrößten der Welt.

„Ich beschäftige mich seit Jahren jeden Tag mit Bitcoin, aber wenn ich versuche, die Technik dahinter zu verstehen, dann stoße ich immer an bestimmte Grenzen, über die ich nicht hinauskomme. Ich glaube, auf der ganzen Welt verstehen vielleicht ein paar Hundert Menschen so richtig, wie der Bitcoin funktioniert.“

Der Bitcoin ist ständig in den Nachrichten: wegen irrsinniger Kurssprünge und wegen seiner fürchterlichen Umweltbilanz. Weil China den Bitcoin verbietet oder das mittelamerikanische Land El Salvador den Bitcoin als offizielle Landeswährung einführt.

Es gibt ein paar Cafés und Onlineshops, wo man mit Bitcoin bezahlen kann – aber eigentlich ist der Bitcoin zu kompliziert, um als Währung zu funktionieren. Der Bitcoin hypnotisiert Millionen Menschen aus anderen Gründen.

Zum einen weil man schnell reich werden kann, wenn man zum richtigen Zeitpunkt investiert: Allein dieses Jahr schwankte der Bitcoin-Kurs zwischen 25.000 Euro und 57.000 Euro. In einer Studie aus dem März 2021 gaben sechs Prozent der Deutschen an, schon mal in Bitcoin investiert zu haben1 und auch große Player wie der Norwegische Pensionsfond halten Bitcoin. Insgesamt sind die rund 19 Millionen Bitcoins, die bislang geschürft wurden, rund eine Billion (zwölf Nullen) Euro wert. Ziemlich viel Aufmerksamkeit für eine Idee, die nur ein paar Hundert Menschen verstehen.

„Aber die zentrale Idee hinter dem Bitcoin ist brillant“, sagt Sergej. Sie ist der zweite Grund, weshalb Bitcoin hypnotisiert. Sergej spricht von der Blockchain.

Alle Kryptowährungen basieren auf dieser Idee. Im Wesentlichen ist die Blockchain ein Buchhaltungssystem. Ein sehr kompliziertes Buchhaltungssystem, das als fälschungssicher gilt und auf Millionen Computern gleichzeitig läuft, die ständig von allen anderen Computern im System kontrolliert werden. Für die Mühen werden die Computer belohnt: Unter bestimmten Umständen werden ihnen Bitcoin gutgeschrieben. Deshalb sagt man: Sie schürfen Bitcoins.

„Lass uns später nochmal versuchen, in die Details zu gehen“, sagt Sergej und setzt den Rundgang durch die Bitcoin-Farm fort. Er läuft den Gang zwischen den beiden Regalreihen entlang. An den Computern flackern Tausende grüne Kontrollleuchten. Die Lüfter erzeugen ein Rauschen wie auf dem Rollfeld eines großen Flughafens. „29.000 Schürf-Computer stehen in den beiden Regalen“, sagt er. 27 Megawatt Strom benötigten die Rechner zusammen – so viel wie ein kleiner Windpark erzeugt.

Am Ende der Regalreihe reißt Sergej zwei Planen beiseite: Er steht jetzt am Ende der Halle, vor ihm ein Verbindungsgang, von dem noch drei weitere lange Hallen abgehen. In einer davon montieren gerade Arbeiter Regalreihen, wie in der Halle, aus der Sergej gerade kommt. Andere Arbeiter ziehen Metall-Bollerwagen voll mit Schürf-Computern heran und wuchten die Computer in die Regalreihen. „Diese Reihe wird noch etwas länger als die erste“, sagt Sergej und schmunzelt.

Die beiden andere Hallen stehen noch komplett leer. Durch Löcher in der Decke rieselt Schnee herein. CryptoUniverse hat auch diese Hallen gekauft, will auch die sanieren und bis obenhin mit Schürf-Computern vollstopfen.

Vor ein paar Jahren war diese verschneite Industriebaracke noch eine Aluminium-Fabrik. Die Sowjets bauten sie in den 50ern. Neben die Aluminiumfabrik bauten sie das kleine Städtchen Nadvoitsy, damit die Arbeiter gleich neben der Fabrik wohnen konnten und nur ein paar Kilometer von der Fabrik entfernt bauten sie ein Wasserkraftwerk, um die Fabrik mit Energie zu versorgen.

Industriebaracke wird zur Hightech-Farm

Doch nach dem Fall der Sowjetunion lief es schlecht mit der Aluminiumproduktion und die Wirtschaftssanktionen des Westens machten es schlimmer. 2013 musste das Aluminiumwerk schließen – seitdem steht ein Großteil der alten Industriehallen leer. Und das 8000-Seelen-Örtchen Nadvoitsy, das außer zwei Gefängnissen keine großen Arbeitgeber hat, begann zu verfallen.

Sergej verlässt die Halle, in denen die neuen Schürf-Computer installiert werden. Er läuft durch einen dunklen, langen Gang mit wenig Türen. Hinter einer Metalltür wummert Dubstep-Musik.

Drinnen arbeiten die maintenance boys – sie schrauben die Schürf-Computer auf, putzen sie, schauen, ob alles ok aussieht und bauen sie wieder zusammen. Wummernde Bässe verschwimmen mit dem ständigen Rauschen der Schürf-Computer, einige maintenance boys tragen Hörschutz. Einfacher Job, keine Schulbildung nötig, Gehalt: rund 500 Euro im Monat.

Hinter der nächsten Tür säuselt nur leise das Radio. Drinnen: volle Konzentration. Sechs Männer sitzen unter Neonlicht vor ihren Schreibtischen. Sie löten, programmieren und schauen sich winzige Schaltkreise unter riesigen Lupen an. „Wenn ein Schürfcomputer ausfällt, landet der hier“, sagt Sergej, „und die Jungs versuchen ihn zu retten.“

Sergej verlässt die Werkstatt und läuft durch ein Verwaltungsgebäude auf dem Fabrikgelände. Verwinkelte Gänge, schwere Türen, verlassene Bürogebäude. Er will das Herzstück der Farm zeigen. Plötzlich steht er in einem hellerleuchteten Raum mit vielen Bildschirmen. „Das ist unsere Leitstelle.“

Ein halbes Dutzend Programmierer sitzt dort, alle tief in ihre Bildschirme versunken. An der Längsseite der Leitstelle hängen zehn riesige Bildschirme. Neun von ihnen zeigen die Rechenleistung aller Computer in der Farm an. Sackt die Leistung ab, suchen sie von der Leitstelle aus nach dem Problem.

Momentan verbraucht das gesamte Bitcoin-Netzwerk so viel Strom wie Italien.

Der zehnte Bildschirm zeigt die wichtigste Kurve von allen: den Bitcoin-Kurs. Heute steht er bei rund 54.000 Euro. „In den vergangenen 24 Stunden haben wir hier 1,9 Bitcoin geschürft“, sagt Sergej – macht rund 102.000 Euro.

Eigentlich kann jeder auf seinem eigenen Rechner Kryptowährungen schürfen. Bitcoin zum Beispiel wird auf Grafikkarten geschürft, wie sie in jedem Laptop verbaut sind. Spricht man mit Sergej, den maintenance boys oder den Tüftlern aus der Reparaturwerkstatt, dann haben viele von ihnen schon geschürft, bevor sie bei CryptoUniverse angefangen haben. Aber die Zeiten, in denen es sich lohnt, auf einem Laptop Bitcoin zu schürfen, sind vorbei und das hat zwei Gründe.

Erstens halbiert sich die Belohnung, die Schürf-Computer für ihre Arbeit erhalten, etwa alle vier Jahre. Halving heißt dieser Prozess und grob gesprochen trägt er dazu bei, dass es nicht zu einer Bitcoin-Inflation kommt. Der zweite Grund lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Je mehr Rechner auf der Welt Bitcoins schürfen, desto schwerer wird es, den nächsten Block in der Blockchain zu erstellen.

Anders formuliert: Wer Bitcoin schürfen will, braucht immer mehr, immer schnellere Computer, die immer mehr Strom fressen. Momentan verbraucht das gesamte Bitcoin-Netzwerk so viel Strom wie Italien.

Bevor der Bitcoin-Kurs 2017 das erste mal explodierte, war Bitcoin ein Nischenthema für Nerds. Heute ist Bitcoin ein Billion-Dollar-Business. Und das zieht Menschen wie Alexej an.

Alexej, CEO und Gründer von CryptoUniverse, sitzt im Pausenraum der Bitcoin-Farm, hält zwei iPhones in den Händen und redet mit seinen Mitarbeitern, ohne dabei von seinen iPhones aufzuschauen. Um ihn herum klatschen sich maintanance boys und Programmierer große Stücke Tiefkühl-Torten auf Plastikteller und schütten schwarzen Kaffee in sich rein.

Eigentlich wohnt Alexej in Moskau, er ist nur für zwei Tage in Nadvoitsy, morgen fährt er weiter nach Murmansk, die große russische Hafenstadt am Nordpolarmeer. Dort betreibt er noch andere Geschäfte, aber über die möchte er nicht so gerne reden. Versteht er denn, was seine Computer da genau machen?

Alexej schaut kurz von seinen beiden iPhones auf und lacht. Zwei Programmierer lachen mit.

„Vor drei Jahren wusste ich noch nicht mal, was Bitcoin überhaupt ist“, sagt er. Als Alexej das erste mal vom Bitcoin hörte, ließ er sich gerade auf seiner Datscha mit Vodka volllaufen. Damals hatte er gerade seinen Job als Chefingenieur der Moskauer Messe gekündigt, war nach Australien geflogen und mit dem Motorrad durch Afrika gerast. Als sein Freund ihm auf der Datscha vom Bitcoin erzählte, war Alexej interessiert und als sein Freund erzählte, dass man damit irre viel Geld verdienen könne, war Alexej begeistert.

Einige Wochen später gründeten Alexej und sein Freund zusammen CryptoUniverse. Sie bauten eine erste Farm in der russischen Stadt Kirishi, aber merkten schnell: So ganz optimal ist Kirishi nicht, um Bitcoins zu schürfen.

Mittlerweile gibt es so viel Konkurrenz, dass sich das Schürfen nur noch an Orten lohnt, an denen die Bedingungen für Schürf-Computer perfekt sind. Also suchte Alexej diesen perfekten Ort.

Möglichst kalt sollte es da sein, damit die Schürf-Computer sich nicht heißlaufen. Also schaute Alexej sich in Nordrussland um. Viel billigen Strom brauchte Sergej, denn Schürf-Computer sind energiehungrig. Alexej brauchte große, leerstehende Hallen, am besten auf einem Hügel gelegen, damit der Wind die kalte Luft in die Hallen schiebt und idealerweise sollte drumherum wenig Wald stehen, damit die Pollen im Frühling nicht die Prozessoren verschmutzen. Alexej hat diesen Ort gefunden.

Die alte Aluminiumfabrik von Nadvoitsy ist perfekt: kalt, groß, gelegen auf auf einem kahlen Hügel und seitdem die Aluminiumfabrik geschlossen wurde, weiß das benachbarte Wasserkraftwerk nicht, wohin mit dem überschüssigen Strom. Darum zahlt Alexej hier etwa einen Cent pro Kilowattstunde. Zum Vergleich: In Deutschland kostet Industriestrom etwa 17 Cent die Kilowattstunde.

Alexej will nicht sagen, wieviel er hier verdient. Aber aus den Zahlen, die er nennt, kann man sich ausrechnen: Die Farm muss hochprofitabel sein.

Business-Leute, die Millionen damit scheffeln, Bitcoins zu schürfen? Das hatten sich die Vordenker von Kryptowährungen sicherlich anderes vorgestellt: In den 90er Jahre träumten die Cyberpunks von einer Revolution im weltweiten Finanzsystem. Sie arbeiteten an einem digitalen Bargeld, das dezentral verwaltet würde und Banken überflüssig machen sollte. Aber die Cyberpunks der 90er konnten ihre Vision nicht programmieren: Das Problem, wie eine Zahlung ohne einen neutralen Mittelsmann verifiziert werden könnte, war einfach zu groß. Der Durchbruch kam erst 2008.

Damals ächzte die Welt unter der Finanzkrise. Das Misstrauen gegenüber Banken erreichte gerade einen neuen Höhepunkt, als ein gewisser Satoshi Nakamoto ein E-Mail an einen Verteiler schickte, die alles verändern sollte.

Er habe eine Methode gefunden, wie Menschen über das Internet Geld austauschen können: die Blockchain.

Finanzinstitutionen mache das überflüssig, schreibt Satoshi Nakamoto in der Mail. Bis heute ist nicht bekannt, welcher Mann, welche Frau oder welche Personengruppe sich hinter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto wirklich verbirgt. Aber nur wenige Monate nach der ersten Mail präsentierte Satoshi Nakamoto den Bitcoin. Eine libertäre Vision: Geld ohne Institutionen.

Auch heute hängen noch immer viele Bitcoin-Jünger an dieser subversiven Ideologie. „Kryptowährungen nehmen den Banken die Macht und geben sie den Menschen zurück“, sagt Sergej, der Systemadministrator. Aber mit den Kursexplosionen der vergangenen Jahre ist die Bitcoin-Community immer größer geworden. Längst zieht der Bitcoin auch ganz andere Menschen an als libertäre Cybepunks. Hört man sich bei CryptoUniverse um, dann scheint jeder eine andere Meinung davon zu haben, was der Bitcoin eigentlich ist.

Bitcoin sei praktisch, wenn man Geld waschen wolle, sagt der eine. Bitcoin würde Zahlungen vereinfachen, sagt ein anderer. Nichts mache einen schneller reich als in Bitcoin zu investieren, sagt der nächste und wieder ein anderer sagt: Bitcoin sei ein virtuelles Kulturgut, genau wie Serien und Memes.

Fragt man Alexej, den CEO, was Bitcoin für ihn ist, sagt er unvermittelt: „OK, ich zeige es dir.“

Er verlässt die Fabrik, läuft über den verschneiten Parkplatz zu seinem BMW X7 M50d (Listenpreis ab 100.000 Euro) und braust zu einer Schule in Nadvoitsy.

Er steigt aus seinem Wagen aus, zeigt auf das bananengelbe Schulgebäude und sagt: „Denen haben wir acht Millionen Rubel gespendet.“ Umgerechnet etwa 100.000 Euro. Die Schulleiterin wird die Behauptung später via Telegram bestätigen. Aber was hat das jetzt mit Bitcoin zu tun?

„Ich will damit sagen: Bitcoins bringen uns Wohlstand.“

Hört man sich in Nadvoitsy um, dann sehen das viele ähnlich. Die meisten, auch Ältere, haben schon von diesem mysteriösem Unternehmen gehört, dass mit Computern in der alten Aluminiumfabrik Geld verdient. 150 Menschen aus Nadvoitsy und dem Umland arbeiten in der Fabrik – Tendenz stark steigend. Im ganzen Ort hängen Stellenausschreibungen von CryptoUniverse: Elektriker, Schweißer, Programmierer gesucht. „Bezahlung über Marktpreis.“ Für sie bedeutet Bitcoin einfach Jobs. Jobs, die weggefallen sind, als die Aluminiumfabrik dichtgemacht hat.

Viele Mitarbeiter in der Bitcoin-Farm haben früher in der Aluminium-Fabrik gearbeitet. Slava zum Beispiel, ein schlacksiger 27-Jähriger mit kurzen, blonden Haaren war früher Elektriker in der Aluminium-Fabrik. Wie die meisten Mitarbeiter in der Bitcoin-Farm hat er keine klassische Informatik-Ausbildung.

Slava hat als maintanance boy angefangen. „Wie man einen Computer putzt, muss man ja nicht groß lernen“, sagt er. Schnell begeistert er sich für das Schürfen. Slava ist interessiert, stellt viele Fragen. Nach zwei Monaten wird er befördert.

Heute sitzt er in der Leitstelle vor den zehn großen Bildschirmen und wenn die anzeigen, dass es ein Problem gibt, dann läuft Slava in die Halle mit den 29.000 Schürf-Computern und sucht nach dem Problem. Er sagt: „Ich liebe diesen Job.“

Ob er verstehe, wie der Bitcoin funktioniert? „Natürlich nicht.“

Da war ja noch was: Sergej, der Systemadministrator, wollte doch nochmal zu einem Bitcoin-Deepdive ansetzen. Am Abend besteht Alexej, der CEO, darauf, sechs Mitarbeiter von ihm und den Reporter auf einen ganzen Tisch voll Lamm, Bier und Jameson-Whiskey einzuladen. Auch Sergej sitzt am Tisch. Er schiebt sich eine Dolma in den Mund, sagt: „Ok, lass es uns nochmal versuchen“ und beginnt ein sehr langes Gespräch über Bitcoin, in dem er oft auf Wikipedia und in Internet-Foren nach Erklärungen suchen wird.

Die Essenz von dem Gespräch sieht so aus:

Stellen Sie sich vor, Sie wollen mir einen Bitcoin überweisen. Dann senden Sie diese Überweisung an eine Art E-Mail-Verteiler. Bitcoin-Schürfer empfangen diese Überweisungen. Die Schürfer schreiben jede Bitcoin-Überweisung, die sie empfangen, auf einen virtuellen Block. Auf einen Block passen etwa 2700 Überweisungen. Viele von diesen Blöcke ergeben die Blockchain. Die Schürfer sammeln so viele Überweisungen, wie auf einen Block passen, bevor sie den Block an die Blockchain hängen.

Aber um einen Block an die Blockchain zu hängen, muss der Text, der auf dem Block steht, durch die kryptografische Hashfunktion „Sha256“ in eine Reihe von Einsen und Nullen übersetzt werden. Diese Abfolge von Einsen und Nullen nennt man Hash. Ändert man im Text nur einen Buchstaben, dann verändert das den Hash komplett und unvorhersehbar. Eine weitere Besonderheit von Sha256 ist: Den Text in einen Hash umzuwandeln ist sehr einfach. Einen Hash dagegen rückwärts in Text zu übersetzen, ist quasi unmöglich – der Text auf dem Block wurde kryptografiert.

Jetzt wird es kurz kompliziert, aber bleiben Sie bei mir, denn gleich haben Sie es geschafft: Damit ein Block, der von Sha256 in einen Hash übersetzt wurde – also in eine Reihe von Einsen und Nullen – in die Blockchain eingefügt werden kann, müssen die ersten 302 Ziffern des Hashs Nullen sein. Deshalb müssen die Schürfer ein ganz besonderes Wort finden, das sie unten auf den Block mit den Transaktionen schreiben. Dieses besondere Wort muss dazu führen, dass wenn der gesamte Text auf dem Block inklusive dem besonderen Wort durch Sha256 in einen Hash übersetzt wird, der Hash mit 30 Nullen beginnt.

Und weil es wie gesagt unmöglich ist, von dem Hash auf den Text zu schließen, ist der effektivste Weg, um das besondere Wort zu finden: raten. Das ist es, was die Schürf-Computer tun: Sie sammeln Transaktionen auf virtuellen Blöcken und schreiben ein Wort unten auf den Zettel, lassen diese Blöcke durch Sha256 übersetzen und hoffen, dass der Hash, den Sha256 ausspuckt, mit 30 Nullen beginnt. Solange bis ein Wort zufällig passt. Bitcoins schürfen ist eine Lotterie.

Wenn sie die Lotterie gewonnen haben, dürfen sie den Block an die Blockchain hängen und ganz oben auf den Block dürfen sie sich selbst den Bruchteil eines Bitcoins gutschreiben. Man sagt: Sie haben Bitcoin geschürft.

Weil die Blockchain öffentlich im Internet steht und jeder einen Block anhängen darf, könnte jeder auch einen gefälschten Block anhängen. Dafür müsste er nur vor allen anderen Schürfern das besondere Wort finden. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber durchaus möglich. Nur müsste der Fälscher auch danach seine gefälschte Blockchain weiterschreiben. Er müsste auch das besondere Wort für die nächsten Blöcke vor allen anderen Schürfern im System finden. Statistisch gesehen ist das nur möglich, wenn man mehr als 50 Prozent aller Rechner im Bitcoin-System besitzen würde, was wiederum praktisch unmöglich ist, weil es so viele Schürfer gibt.

So kann die Blockchain alle Transaktionen speichern ohne dass Nutzer einer Bank vertrauen müssen. Nutzer müssen nur darauf vertrauen, dass Sha256 wirklich nicht zu knacken ist und dass es genug Schürf-Computer gibt, die nach den besonderen Wörtern für die Blöcke raten.

„Wenn du das verstehst, weißt du mehr als 95 Prozent unserer Mitarbeiter“, sagt Sergej, „und trotzdem ist das nur die Oberfläche.“

Die Blockchain ist schier unergründlich. Aber um mit ihr Geld zu verdienen, muss man sie auch nicht verstehen.

Am nächsten Tag, Alexej heizt seinen BMW da schon nach Murmansk, steht Slava, der blonde, schlacksige Mitarbeiter aus der Leitstelle in einer Garage und schraubt an seinem Mazda herum. Heute ist sein freier Tag.

„Ehrlich gesagt habe ich in der alten Aluminium-Fabrik doppelt so viel verdient, wie in der Bitcoin-Farm“, sagt er, „aber in der Bitcoin-Farm lerne ich was.“

Er holt sein Handy raus, scrollt durch einen Online-Shop und stoppt bei dem Bild von einem Schürf-Computer. „Auf den hier spare ich gerade“, sagt er, „Ich weiß ja jetzt, wie man die bedient.“ Vier oder fünf Computer würden auf seinen Balkon passen, sagt er. Ein paar Hundert Euro könnte er sich so pro Monat dazuverdienen und er ist nicht der einzige, der hier in das Schürfer-Geschäft einsteigen will.

Die verschneite Industriebaracke hat in Nadvoitsy, diesem wunderbar kalten Ort mit der billigen Energie, Goldgräberstimmung ausgelöst.

1 |  | https://de.statista.com/infografik/22561/anteil-der-krypto-nutzer-in-ausgewaehlten-laendern

2 |  | Manchmal sind es auch mehr oder weniger als 30 Nullen, je nachdem wie viele Schürf-Computer im System sind. Je mehr Computer schürfen, desto mehr Nullen muss ein Hash-Block am Anfang haben. Man nennt das die Network Difficulty. Sie soll erreichen, dass genau alle 10 Minuten ein neuer Block entsteht, egal wie viele Schürf-Computer im System sind. Ohne Network Difficulty würde der Bitcoin inflationieren.

Yves Bellinghausen

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