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Die Wohn­maschine

In Kudrowo, am Rand von St. Petersburg, leben fast 50.000 Menschen im größten Wohnkomplex des Landes. Die Straßen sind verstopft, Parkplätze fehlen, es gibt nur einen Polizeiposten und erst seit kurzem eine Feuerwehr. Doch die meisten Leute wohnen gern hier. Warum?

Von
Jannik Jürgens

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Die Grenze zwischen St. Petersburg und Kudrowo verläuft entlang alter Bahngleise. Wer sie überschreitet, verlässt die Stadt der Kunst und der Wissenschaft und betritt die Stadt der Wohnsilos. Kudrowo, ein Monster aus Asphalt und Beton, gestampft aus matschigem Boden, ragt 27 Stockwerke in den Himmel. Wind pfeift um die Ecken. Doch so brutal die Stadt auch wirkt, Kudrowo verkörpert den Traum vieler Russen. Sie können sich hier eine eigene, moderne Wohnung leisten.

Kaum eine Stadt auf der Welt ist so schnell gewachsen wie Kudrowo. Vor elf Jahren standen hier windschiefe Holzhäuser zwischen Birken, offizielle Einwohnerzahl: 137. Heute hat Kudrowo zwischen 40.000 und 50.000 Einwohner, so genau weiß das niemand. Und Kudrowo wächst weiter, ganz nach dem politischem Willen von Präsident Wladimir Putin, der den Wohnbau zur nationalen Priorität erklärt hat.

Der Traum hat allerdings Risse. Zeitungen berichten über Drogen, Kriminalität und Gewalt. Ein Mann soll seine Frau ermordet und ihre Leiche im Treppenhaus eines Wohnblocks versteckt haben. Erst nach einer Woche wurde sie gefunden. Am Eingang der Stadt steht in krakeliger Schrift auf einer Mauer: „Du hast deinen Sohn verlassen.“ Wird Kudrowo zum Brennpunkt, zum Sozialfall, zur No-Go-Area?

„Kudrowo ist das Ergebnis von russischer Korruption und Wild-West-Verhältnissen in den 90er Jahren“, sagt der Stadtplaner Ilya Reznikov. Investoren hätten damals die Behörden bestochen und dann freie Hand gehabt. Sie bauten Bienenwaben aus Beton bis in den Himmel, verzichteten auf Tiefgaragen, Bäume und ordentliche Spielplätze. Um eine gute Verkehrsanbindung kümmerte sich keiner.

Inmitten dieses Betongebirges sitzt Anja Popow in einem Café und rührt in ihrem Cappuccino. Popow ist nicht ihr richtiger Name, sie arbeitet in einer Behörde und hat Angst, Ärger zu bekommen, wenn sie mit einem Journalisten aus Deutschland spricht. Popow sagt: „Kudrowo wird mit Sicherheit in ein paar Jahren zu einem Ghetto werden.“ Leute aus der Mittelschicht, wie sie, würden wegziehen und dann lebten hier nur noch finanziell schwache Menschen.

Die 38-Jährige zählt die Probleme der Stadt auf: fehlende Parkplätze, nicht genügend Kindergartenplätze, die Schulklassen seien zu voll. Ihr Sohn, 10. Klasse, gehe auf eine Privatschule. Er müsse noch den Abschluss machen, dann wollen sie weg. Denn die Unsicherheit werde immer größer. Nach 20 Uhr traue sie sich nicht mehr alleine vor die Tür. Die ganze Stadt habe nur einen Polizeiposten – und erst seit kurzem eine Feuerwehr.

Als Popow vor einigen Wochen nach Hause kam, sei das Treppenhaus mit Blut beschmiert gewesen. Sie vermutet, dass auf ihrer Etage Drogen verkauft werden. „Im Innenhof sitzen neuerdings so komische Leute, die Alkohol trinken und viel Krach machen.“ Als sie vor fünf Jahren eingezogen sind, sei es noch ganz anders gewesen.

Eigentlich wollte Anja Popow uns nicht in ihre Wohnung lassen, doch dann dürfen wir doch zu ihr nach Hause. Sie führt uns durch eine Straßenschlucht zu einem roten Wohnblock am Rande der Stadt. Auf der Brache gegenüber soll eine Schule gebaut werden, dahinter rauscht die Ringautobahn. Wir fahren mit dem Aufzug in die zwölfte Etage, Popow zeigt auf eine abgerissene Lampenverkleidung im Flur. „Hier haben sie die Drogen versteckt.“ Dann öffnet sie die Wohnungstür und ihr Mann Igor begrüßt uns.

Igor sitzt im Rollstuhl. Seine Krebserkrankung war ein Grund, warum die Familie nach Kudrowo gezogen ist. Die Häuser haben Aufzüge, die Straßen sind eben und vor Geschäften und Fitnessstudios stehen Rampen, die Igor mit dem Rollstuhl hinauffahren kann. In den älteren Vierteln von St. Petersburg gibt es das nicht. „Es ist nicht alles schlecht in Kudrowo“, sagt Anja Popow.

Sie serviert Kirschtee und Apfelbrot, eine Spezialität aus der Tula-Region, ihrer Heimat. Vor der Pandemie seien sie oft auf Konzerte gegangen, sagt Igor, mindestens drei Mal im Monat, doch nun werde wieder alles abgesagt. Juno 17, eine Deutschrock-Band, hat ihnen besonders gefallen.

Anja und Igor Popow haben das Video des Bloggers Varlamov gesehen. Der Youtuber macht sich darin über das Bauministerium lustig, das Kudrowo zur russischen Kleinstadt mit der größten Wohnqualität kürte. Varlamov drückt es so aus: „Asphalt, Matsch, überall Autos, das ist große stadtplanerische Scheisse.“

Kudrowo sei eine Stadt ohne Kern, eine Schlafstadt, eine Parasitenstadt, die ohne St. Petersburg ganz schnell sterben würde. Varlamov staunt über Zäune, die Fußballplätze vor Kindern schützen und erinnert sich in einem Anflug von Sentimentalität an die Plattenbauten der Chruschtschow-Ära. Damals habe man wenigstens Bäume zwischen die Gebäude gepflanzt.

Die Stadtplaner in der Sowjetunion wollten, dass das Viertel, der Mikrorayon, zum Lebensmittelpunkt der Menschen wurde, auch zur sozialen Kontrolle. Sie bauten Wasserflächen, Spielplätze, Kindergärten, Schulen, Kinos, Geschäfte und Kantinen.

Das Thema Wohnen hat eine lange Geschichte in Russland. In der Oktoberrevolution wurde Wohnen zum Menschenrecht ausgerufen. Ganze Familien hausten damals meist in einem Zimmer einer Kommunalka, einer staatlich verordneten Wohngemeinschaft. Nach Stalins Tod stach Chruschtschow seine Rivalen aus, in dem er jeder Familie eine eigene Wohnung versprach. Innerhalb von 25 Jahren zog gut die Hälfte der Sowjetbürger in eine Platte.

Doch Wohnraum blieb knapp. Als die Sowjetunion 1990 implodierte, wartete noch jede vierte Familie auf eine eigene Wohnung. In den 2000er Jahren wucherten Moskau und St. Petersburg in die Peripherie, die Hochhäuser von Kudrowo wurden dringend gebraucht.

Oleg Norviko, 21, steht hinter dem Zapfhahn der Bar Undersound. Um 18 Uhr ist noch nicht viel los und der Barman hat Zeit für ein paar schnelle Fragen. Wird Kudrowo zum Ghetto? „Klar gibt es ein paar Häuser, in denen arme Leute wohnen. Aber insgesamt ist es hier gar nicht so schlimm.“ Werden in seinem Treppenhaus auch Drogen verkauft? Norvikov sagt: „Meine Nachbarn kochen Drogen.“ Die beiden seien ein Paar, 17 und 21 Jahre alt, und produzierten Mephedron. Manchmal rauche mit ihnen eine Zigarette auf dem Balkon. „Die sind ganz normal, aber sie haben sich für diese Art von Karriere entschieden“, sagt Norvikov. Breaking Bad in Kudrowo.

An der Wand der Bar prangt ein schwarz-weißes Porträt des Rockstars Sergej Schnurow. Der Gründer der Band Leningrad füllt mit seinen Songs über Drogen, Sex und St. Petersburg ganze Stadien. „Der war mal hier und hat sein Porträt unterschrieben“, sagt Norvikov, der eine Ausbildung zum Fluglotsen macht. Später kämen noch die Stammgäste, Alexander zum Beispiel, ein Ingenieur, mit dem Norvikov oft über Geschichte und die Entwicklung der Menschheit redet. „Wir sind hier wie eine Familie.“ Nach Ghetto klingt das nicht.

Auch Ilya Reznikov, der Stadtplaner, glaubt nicht, dass Kudrowo zu einem Ghetto wird. Er erklärt das mit der Vergangenheit. Im Sozialismus sollte eine klassenlose Gesellschaft entstehen, ohne Unterschiede, also wurden Wohnungen zugeteilt und Professorinnen, Ärzte und Fabrikarbeiter lebten im gleichen Viertel. Das wirke bis heute nach und auch in Kudrowo wohnten ganz unterschiedliche Leute. Vor allem junge Familien mit vielen Kindern, die vom Land in die Stadt ziehen. Für sie ist Kudrowo die erste Anlaufstelle.

Marina Susojewa sitzt auf einer Bank inmitten parkender Autos. Um sie herum ragt Russlands größter Wohnkomplex auf, mehrere Riegel mit über 3700 Wohnungen. Ihr Sohn Marc rutscht auf einem Plastikauto herum. Einen Kindergartenplatz für ihn hat sie noch nicht gefunden. Susojewa spricht Deutsch, sie hat mal aus Au-Pair im Schwarzwald gearbeitet.

Aus ihrem Fenster könne man auf St. Petersburg schauen. „Jeder hier kauft eine Wohnung auf Kredit“, sagt Susojewa. Vor vier Jahren bezahlte sie fünf Millionen Rubel für ihre Zwei-Zimmer-Wohnung. Wer heute eine solche Wohnung kaufen wolle, müsse fast zehn Millionen Rubel, etwa 110.000 Euro hinlegen.

Die Immobilienpreise steigen in ganz Russland, besonders stark in den Großstädten. Im vergangenen Jahr kletterten sie in St. Petersburg um 20 Prozent. Und die Nachfrage ist ungebrochen. Für Investoren ist Kudrowo eine Goldgrube. Weil es besonders lukrativ ist, bieten sie viele kleine Wohnungen, sogenannten Studios, an.

Kiril Dola wartet seit drei Jahren darauf, sein Studio beziehen zu können. Der 34-Jährige wohnt in einem Holzhaus, das aus der Zeit stammt, als Kudrowo noch ein Dorf war. Das Häuschen ist etwa 80 Jahre alt, wird mit Holz geheizt und Wasser muss Dola in großen Kanistern heranschaffen. Im Garten wird Gemüse gepflanzt, am Wochenende kommen seine Großeltern, um in die Banja, die russische Sauna, zu gehen. „Das hat auch etwas romantisches hier“, sagt er. ,Doch mit Blick auf den Winter möchte er so schnell wie möglich in seine Wohnung ziehen.

Leisten kann er sich das locker, denn Dola arbeitet in der Investmentabteilung einer großen russischen Bank. Seit der Pandemie tradet er aus dem Home-Office und so kommt es, dass der 34-Jährige in einer Bruchbude sitzt, das weiße Laptop-Leuchten im Gesicht, und dabei mit Optionen, Derivate und Futures handelt. An der Wand hängt ein riesiger Löwen-Teppich, die Linoleumtischdecke zieren rote Rosen. „Mir gehört hier nichts, außer den Klamotten und den Lebensmitteln“, sagt Dola. Er hat Philologie in Nowgorod studiert, mit Fokus auf Englisch, dann kam er nach Kudrowo.

Auf den ersten Blick scheinen es nicht die armen Russen zu sein, die sich eine Wohnung in Kudrowo leisten können. Doch anders als in Deutschland lebt in Russland kaum jemand zur Miete. Rund 90 Prozent der Russen wohnen in einer Eigentumswohnung oder einem Haus, in Deutschland sind es nur 51,3 Prozent der Menschen.

Wer keine Wohnung hat und kein Geld besitzt, muss einen Kredit aufnehmen, um zu wohnen. Putin sagt offen, dass seine Landsleute Schulden machen sollen, um ein besseres Leben zu haben. Und der Staat hilft. So werden Hypothekendarlehen subventioniert, um die Zinsen für den Kauf einer Wohnung zu begrenzen. Eine Hilfe, die der Staat für Kinder zahlt, kann gleich als Anzahlung für eine Hypothek benutzt werden.

Doch die russischen Einkommen, die die Schulden bezahlen müssen, gingen schon vor Corona zurück. In der Pandemie sei ein bedeutender Teil der Bevölkerung in die Armut abgesackt, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Jaroslav Kuzminov. Die Anzahl der gepfändeten Wohnungen steigt.

Der russische Staat ist kaum verschuldet, er könnte seine Bevölkerung stärker durch Sozialleistungen und höhere Löhne unterstützen. Doch das will Putin nicht. Der Kremlchef legt Devisenreserven und Gold zurück, damit Russland wirtschaftlich unabhängig und international handlungsfähig bleibt. Dafür nimmt er ein niedrigeres Wirtschaftswachstum und geringere Einkommen der Bevölkerung in Kauf.

Elena Dsasochowa ist Kunstlehrerin. Um zu ihrem Atelier in Kudrowo zu gelangen, nimmt die 52-Jährige das Fahrrad – damit ist sie eine Exotin auf den Straßen, die von Autos beherrscht werden. Wir haben einen Kurs bei ihr gebucht und wollen – wie sollte es anders sein – ein Aquarell von Kudrowo malen.

Dsasochowa klappt eine Staffelei auf, legt ein weißes Blatt darauf und klebt ein Foto vom Sonnenuntergang über Kudrowo darüber. Im Vordergrund steht eine Kirche in einem Park, im Hintergrund grüßen die Wohnblöcke. „Das wichtigste Gebäude ist natürlich die Kirche. Die dürft ihr ruhig etwas größer malen“, sagt Dsasochowa. Sie läuft zu den anderen Schülern, die eine Teekanne zeichnen.

Als ich versuche, die goldene Kuppel des Gotteshauses zu zeichnen, steht Dsasochowa wieder hinter mir und rät, nicht zu sehr auf die Details zu achten. Das große Ganze müsse stimmen. Gut, sage ich, dann müssen die Wohnblöcke viel größer sein, bis in den Himmel ragen, aber das lässt meine Lehrerin nicht gelten. „Du brauchst einen klaren Vordergrund. Das ist die Kirche.“

Drei Filialen hat die Kunstschule in Kudrowo. Nachmittags kommen Kinder zum Malen und Töpfern, abends Erwachsene. Die Kurse sind ausgebucht. Dass sei der Beweis, dass man keine schöne Umgebung zum Malen brauche. „Malen geht auch im Knast. Du musst es aus dem Gedächtnis machen“, sagt Dsasochowa. Ich soll noch ein paar Fenster auf die Wohnblöcke malen, weiß für jemanden, der zuhause ist, schwarz für jemanden, der sein Hypothekendarlehen nicht bedienen konnte.

Dann ist mein Aquarell fertig. Die Kirche steht schief, die Wohnblöcke sind sehr bunt und im Großen und Ganzen entspricht mein Werk auf keinen Fall der Realität. Das sei nicht schlimm, sagt meine Kunstlehrerin. Jeder habe eben einen anderen Blick auf die Stadt.

Jannik Jürgens

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