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Gebrochene Traditionen

Zwischen Synagoge, alten Papieren und Militärparaden: Hier erzählen fünf Sankt Petersburger:innen, wie sie ihre jüdische Identität wiederentdeckten – als erste Generation in Russland nach 1990.

Von
Sophie Laaß

A

Alla Mitelman, 42, leitet eine jüdische Reformgemeinde

Als religiöses Leben plötzlich wieder möglich war, wussten die Leute erst einmal nicht, womit sie anfangen sollten.

Man muss verstehen, dass die meisten Menschen hier zur ersten Generation gehören, die ihr Jüdischsein praktisch ausübt. In der Sowjetzeit gab es diese Möglichkeit nicht. Als nach 1990 religiöses Leben plötzlich möglich wurde, wussten die Leute erst einmal nicht, womit sie anfangen sollten.

Viele jüdische Organisationen wurden mit Hilfe aus dem Ausland aufgebaut. Und es gibt eine große Zahl von Jüd:innen in Sankt Petersburg, die für sich selbst entschieden haben, ihre Religion nicht aktiv zu praktizieren. Das heißt, sie bleiben weltliche Menschen. Sie gehen in Student:innenclubs und beschäftigen sich mit der Kultur ihrer Vorfahren, oder ihre Kinder besuchen eine jüdische Schule. Aber man kann sie nicht als religiös bezeichnen.

Unsere Gemeinde gibt es seit 16 Jahren, sie wurde von Menschen aufgebaut, die sich zum progressiven Judaismus zählen. Eine Generation von Kindern ist hier schon aufgewachsen. Die Eltern kamen alle erst vor zehn, 15 Jahren her. Aber mit den Jahren entwickelte sich ein Charakter, der Einfluss der Zeit vor 1990 wurde geringer. Ungefähr 50 Familien kommen nun regelmäßig her.

Mir gefällt an meiner Arbeit, dass ich sie nicht als Arbeit wahrnehme. Mir gefällt, dass es keinen Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit gibt. Das ist einfach mein Leben. Ich bin für alles verantwortlich: Die Administration, die Organisation von Kulturprogrammen, für Gottesdienste, die Arbeit mit Kindern und Erwachsenen. Das Budget hat sich stark verringert. Früher hatten wir sieben, acht bezahlte Mitarbeiter:innen, nun haben wir nur noch einen. Alle anderen arbeiten freiwillig oder sind Freelancer.

Ich beschäftige mich viel mit jüdischer Theologie. Ich denke, dass es wenige Jüd:innen in der Stadt gibt, die sich entschieden mit der religiösen Welt auseinandersetzen. Warum sollte man beten, wenn es die Familie nicht getan hat? Wir bringen Kindern und Erwachsenen die hebräische Sprache bei und leben jüdische Traditionen. Dazu gehört zum Beispiel die Kaschrut, die jüdischen Speisegesetze. Wir zeigen Kindern, wie man koscher kocht. Die Tora ist Quelle unseres Wissens. Wir lesen die alten Texte, um zu verstehen, was in der Gegenwart passiert.

Im orthodoxen Judentum gibt es einige Dinge, über die nicht gesprochen werden darf. Zum progressiven Judaismus gehört es, keine Angst davor zu haben, sich beim Studium der Tora auch anzuschauen, wie Religion und Wissenschaft aufeinanderprallen. Und wir realisieren berufliche Gleichheit. Frauen können alle Funktionen und Berufe in der Gemeinde ausüben.

Von uns gingen und gehen auch einige Leute weg. Die Mehrheit geht nach Israel. Einige gehen auch zur Familie nach Deutschland. Interessant ist, dass die Menschen, die nach Israel gingen und repatriiert worden, dort eine russischsprachige Zweiggemeinde aufgebaut haben. Wir pflegen die Beziehung zu ihnen und realisieren verschiedene Projekte, zum Beispiel pflanzen wir Bäume.


Sergey Kozin, 51, arbeitet als Lektor bei einem Verlag

Ich fragte meine Mutter nach ihrer jüdischen Herkunft. Sie erzählte mir eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg.

Ich beschäftige mich erst seit drei Jahren mit Judaismus. Das ist alles noch neu für mich. Als ich aufwuchs, wusste ich nichts über meine jüdische Identität. Vielleicht hatte ich gehört, dass meine Mutter Jüdin ist, aber es schien mir nie wichtig zu sein.

Als ich ungefähr 13 Jahre alt war, fand ich einen großen Sack mit alten Papieren und Dokumenten meiner Eltern. Ich stöberte darin herum und fand die Geburtsurkunde meiner Mutter. Darauf standen komische Namen ihrer Eltern, sie klangen nicht nach typisch russischen Namen. Und als Nationalität war vermerkt: Jüdisch.

Also fragte ich meine Mutter danach. Sie erzählte mir eine Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sie und ihre Familie lebten damals in einer kleinen Stadt im Westen Russlands, nahe Belarus. Im Jahr 1941 überfielen deutsche Truppen die Stadt. Meine Großmutter und ihre zwei Töchter wurden in ein Ghetto gebracht. Nach ein paar Wochen wurden alle erschossen, nur meine Mutter nicht. Sie war damals drei Jahre alt.

Sie hatte eine belarusische Nanny, die den Deutschen sagte, dass meine Mutter ihre Tochter ist. Sie durften gehen und flohen anschließend von Dorf zu Dorf. Die Leute drohten ihr, sie würden sie der Gestapo melden. Erst als der Krieg vorbei war, blieben sie an einem festen Ort. Mein Großvater kam aus dem Krieg zurück und heiratete die Nanny. Ich kenne sie als meine Großmutter.

Ich fand das alles heraus, als ich 13 war, das war im Jahr 1984. Ich wusste nicht, was ich mit meiner jüdischen Identität anfangen sollte. An meiner Familie gab es nichts Religiöses. Meine Familie begrüßte das Sowjetregime, weil es ihnen viele Möglichkeiten bot. Das einzig jüdische an ihnen blieben ihre Namen, die sie ständig änderten. Auf den Dokumenten meiner Mutter steht erst Mikhla, dann Maria, Manja. Meinen Großvater kenne ich als Lew, aber er hieß Lejba.

Danach fand ich heraus, dass auch viele meiner Freund:innen jüdische Eltern hatten. Das wurde damals zu einer Art Insiderwitz: Es machte uns zu etwas Besonderem und gleichzeitig kritischer gegenüber dem Sowjetregime. Und so begann diese Sache in mir zu wachsen. Ich machte einen Abschluss in Religionswissenschaft und lernte Hebräisch. Ich liebe es, mit jüdischen Texten zu arbeiten.

Vor drei Jahren ging ich das erste Mal in eine Synagoge. Ich suchte nach einem Ort, an dem ich endlich ich selbst sein konnte. In der Synagoge lernte ich an fünf Abenden die Woche, Schrift und Sprache der Tora zu verstehen. Ich konnte selbst entscheiden, wie schnell ich damit vorankommen will. Seit eineinhalb Jahren organisiere ich nun einen Buchclub, in dem wir verschiedene Perspektiven innerhalb des Judentums besprechen.


Pavel Kachkin, 33, ist Ingenieur aus Chelyabinsk

Ich begann mein jüdisches Leben als Teenager in einem Jugendcamp. Vorher wusste ich rein gar nichts darüber.

Ich habe 2012 und 2013 schon einmal in Sankt Petersburg gelebt und bin nun wieder hergezogen. Ich habe viele Freunde hier, einige sind aber ausgewandert. Meistens aus finanziellen Gründen. Nicht wegen des Antisemitismus. Der ist kein so großes Problem mehr, wie es früher war. 1991 gab es unter jüdischen Familien die Angst, dass es Pogrome geben könnte, so wie in der Zarenzeit.

Es gab keine Pogrome. Aber die Menschen hatten Angst. Meine Tante lernte in dieser Zeit Hebräisch und bereitete sich darauf vor, die israelische Staatsbürgerschaft erlangen zu können. Sie ist eine reiche Frau mit vielen Besitztümern und hat viele Freund:innen in Chelyabinsk. Sie interessierte sich nicht wirklich für die jüdische Kultur. Sie lernte Hebräisch nur, um auswandern zu können.

Als sie verstand, dass nichts Gefährliches passieren würde, hörte sie sofort damit auf. Dann wurde ihr Sohn krank. Die Ärzt:innen konnten ihm nicht helfen. Aber in den 90ern konnte man in Russland auch zu einer Geistheilerin gehen. Meine Tante ging also hin, aber die Frau fragte sie, ob sie getauft, also Christin sei. Sonst könne sie ihr nicht helfen. Also wurde meine Tante Christin. Heute glaubt sie an gar nichts mehr.

Ich begann mein jüdisches Leben mit 13, in einem jüdischen Camp der Agentur Sochnut. Das war eine Revolution für mich, ich wusste vorher rein gar nichts darüber. Danach besuchte ich einen jüdischen Club. Als ich älter wurde, leitete ich dort Jugendgruppen. Ich bereitete die Feiertage vor. Danach ging ich zur Reformgemeinde.

In dieser Gemeinde gibt es bis heute keinen Rabbi, aber es gibt einen Direktor. Alles ist nicht so streng. Zum Beispiel darf man immer ein Handy dabeihaben. Auch im Gottesdienst. In der orthodoxen Chabad-Bewegung ist es wichtig, dass deine Mutter Jüdin ist, so wie es in der Halacha steht. Für uns ist das nicht so wichtig.

Auch, wer gar keinen jüdischen Hintergrund in der Familie hat, ist bei uns willkommen. Es gibt ein spezielles Programm für die Konversion. Man muss dafür viel lernen, an den Feiertagen teilnehmen und so weiter. Am Ende wird man von einem Rabbi geprüft und zu jüdischen Traditionen befragt. Er entscheidet, ob man danach Jude werden kann oder nicht.

Meine eigene Familie war nie sehr religiös. Aber es gibt Erzählungen, die wir von Generation zu Generation weitertragen werden. Zum Beispiel die über meine Mutter: Sie war sehr gläubig, und sie konnte Jiddisch. Bis zum Alter von vielleicht fünf oder sechs Jahren sprach sie nur auf Jiddisch, kein Russisch. Aber in der Sowjetzeit, in einer einheitlich russischsprachigen Gesellschaft, war das komisch. Also verbot mein Großvater ihr, Jiddisch zu sprechen. Heute kann sie es nicht mehr, kein einziges Wort.


Mikhail Epshtein, 55, leitet eine Privatschule

In der Sowjetunion gab es staatlichen Antisemitismus. Das ist vorbei, aber der alltägliche Antisemitismus hat sich gehalten.

Das Einzige, was in meinem Haus an meine jüdischen Vorfahren erinnert, ist eine alte Tora-Rolle. Ich bin kein religiöser Mensch. Auch meine Großmutter und mein Großvater waren das nicht. Meine jüdische Großmutter gehörte in Kiew dem ersten Komsomol an und zerstörte eine Synagoge. Sie ließ ein Wohnheim an deren Stelle bauen und schloss das jüdische Leben.

In der Sowjetunion wusstest du, dass du Jude bist, wenn du verspottet wurdest. In der Familie haben wir das oft diskutiert und ich habe verstanden, dass viele Leute ein komisches Verhältnis zu Jüd:innen haben.

Ich hatte im Leben sehr viel Glück. Mir hat mein Jüdischsein nie geschadet. Nach der Schule wollte ich eigentlich Geschichte studieren, aber ich wusste, dass man Jüd:innen an der historischen Fakultät nicht zulässt. Weil die Jüd:innen ein unzuverlässiges Volk waren, sie konnten ja jederzeit nach Israel auswandern. Und die historischen Fakultäten waren damals groß und prestigeträchtig. Also bewarb ich mich an der mathematisch-physikalischen Fakultät. Einige meiner jüdischen Freunde wurden auch an der nicht angenommen, obwohl sie sehr talentiert waren.

Alltäglichen Antisemitismus gibt es in Russland schon lange. Aber in der Sowjetunion gab es außerdem noch staatlichen Antisemitismus. Nicht offiziell, aber faktisch. Heute gibt es das zum Glück nicht mehr. Aber der alltägliche Antisemitismus hat sich gehalten. Die Gründe sind dieselben wie in Deutschland: Der Streit der Religionen, weil die Christ:innen denken, die Jüd:innen hätten Jesus verraten. Die Xenophobie, denn die Jüd:innen sind anders, nicht wie alle anderen. Und Neid, weil ein Teil der Jüd:innen sich viel Geld und Besitz erarbeitet hat.

In den 90ern gab es viele Projekte, die sich der Aufklärung und der Erinnerungskultur widmeten. Die NGO Memorial hat ein Projekt mit Schulkindern organisiert, in dem sie verschiedene Geschichten ihrer Familie aufschrieben, die mit dem Krieg und den Gulags verbunden waren. Das war ein großes Projekt, das viele Jüd:innen unterstützt haben.

Solche Projekte gibt es immer noch, aber mir scheint, dass sie nun weniger Einfluss haben. Memorial wurde zum ausländischen Agenten erklärt. Erinnerungskultur ist etwas Offizielles geworden, sie soll den Staat unterstützen. Es geht nur noch um den Sieg in 1945, für den es Militärparaden gibt. Alle anderen, leidvollen Geschichten werden ausgeblendet.

Ob diese Geschichten in der Schule besprochen werden, hängt von Schule und Lehrer:in ab. An unserer Privatschule besprechen wir sie, da sind wir noch ein bisschen freier. Hier gibt es auch viele jüdische Kinder. Außerhalb meiner Arbeit an der Privatschule erscheint mir solche Arbeit mittlerweile schwierig. Für viele Menschen scheint es wichtig zu sein, über den Holocaust und den Faschismus zu sprechen. Aber auch in der Sowjetunion gab es Probleme: die Umsiedlung vieler Völker zum Beispiel, der Tschetschenen, Litauer, Inguschen. Das hat mit dem Faschismus nichts zu tun.


Tanya Ivova, 41, organisiert Kulturprogramme für Senior:innen

Wir organisierten in den 90ern soziale Hilfe und schrieben die jüdischen Namen auf. So sammelten wir die ersten Schützlinge.

Die Senior:innen sind alle in der Sowjetunion aufgewachsen. Ihre jüdische Identität basiert allein auf dem Pass, der ihnen dort ausgestellt wurde. Sie wissen fast nichts darüber, welche Traditionen es gibt oder welche es früher in den Familien gab. Manchmal lehnen sie das alles sogar ab und sagen: Wir sind weltliche Menschen, das geht uns nichts an.

Ich arbeite für eine gemeinnützige Organisation, die sich um diese Senior:innen kümmert. Alles fing 1989 mit Freiwilligenarbeit an, die aus Finnland und Deutschland unterstützt wurde. Viele Leute brauchten damals Hilfe, weil das soziale System sie nicht mehr auffangen konnte. Wir gaben Nahrungsmittel und Kleidung. Auf einen Zettel schrieben unsere Freiwilligen die jüdischen Namen und fragten dann nach den Leuten. So sammelten wir die ersten Schützlinge.

Wer einer unserer Schützlinge werden will, muss ein paar Dokumente ausfüllen und bekommt dann soziale Hilfe. Für die Online-Programme muss man sich nur anmelden. Wir geben den Senior:innen ein Telefon und einen Computer und erklären ihnen, wie sie funktionieren. Sie können sie kostenlos benutzen. Einige bedanken sich dafür, dass sie gelernt haben, wie man das Internet benutzt. Mit Beginn der Coronapandemie begannen wir ein Bildungsprogramm für die Senior:innen über Zoom.

Normalerweise laufen jüdische Bildungsprogramme ja so: Jemand erzählt kurz etwas über die Traditionen und dann geht es in die Eremitage. Das Interesse an der Religion geht dabei verloren. Auch die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges wird häufig abgelehnt, weil das ein schmerzhaftes Thema ist. Nach dem Krieg gab es viel Antisemitismus, die Verwandten waren an der Front gestorben.

Wir haben verschiedene Dozenten, die eben genau die jüdische Geschichte und die jüdischen Traditionen unterrichten. Die Senior:innen mussten sich erst an sie gewöhnen. Es gibt einen Dozenten, der geht ein wenig politisch unkorrekt mit den Schülern um, aber denen gefällt das unheimlich. Sie verehren ihn. Und nun sprechen sie sogar über König David, sie sind außer sich vor Begeisterung.

Aktuell organisieren wir verschiedene Lesungen, und jeden Freitag gibt es ein Konzert. Ungefähr 30 bis 40 Senior:innen kommen jedes Mal dorthin. Wenn wir einen Musiker einladen, dann ist das explizit für sie. Sie verstehen, dass wir das explizit für sie machen, es sind keine riesigen kostenlosen Theaterstücke. Und dass wir nicht mit ihnen in die Eremitage gegangen sind, ist dann gar nicht mehr so schlimm.

Für die Senior:innen ist es nicht wichtig, koscher zu essen. Aber es ist wichtig für sie, dass es für jeden zehn Brötchen gibt. Das kann man schwer ändern. Für mich ist es auch nicht so wichtig, koscher zu essen, aber bei einigen Festen schon. Da bereiten wir koscheres Essen zu und machen alles andere sehr kurz und unterhaltsam, mit Liedern und Tänzen, damit sich die Senior:innen freuen. Und so verstehen sie, dass es nicht nur um das Essen ging.

Sophie Laaß

Sophie Laaß

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