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Lebens­wege, die sich kreuzen

Wir debattierten im Fachschaftsrat unserer Uni, tanzten wild auf Partys und zogen bald zusammen: Julia und ich. Mehr durch einen Zufall erfuhr ich, dass Julia eine Russlanddeutsche ist. Sechs Jahre später treffen wir uns in St. Petersburg und ergründen, was das eigentlich bedeutet: Russlanddeutsch.

Von
Pia Stendera

W

Wir haben im Fachschaftsrat debattiert, auf Partys getanzt und schon einige Monate zusammengelebt: Julia und ich. Eines Tages stand sie am Gasherd unserer WG-Küche, schwitzte Zwiebelwürfel und Möhrenstücke an, gab Parboiled Reis dazu, löschte alles mit Gemüsebrühe ab, setzte dem Topf seinen Deckel auf und überließ das Innere den beißenden Flammen des Herds. Ich fragte sie, was das werde. Sie sagte Plov.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff: Julia ist Russlanddeutsche. Lange machte sie kein großes Ding daraus, also fragte ich nicht weiter, was das eigentlich bedeutet. Mit der Zeit änderte sich das. Ihre Geburtstage feierten wir an einer Tafel mit russischem Essen. Sie erzählte mehr von zu Hause, von dem was sie weiß und was sie nicht weiß. Sie saß in Seminaren und fuhr quer durch Deutschland in Museen und Archive; schickte mir Sprachnachrichten mit neuentdeckten Flicken für den Teppich, auf dem sie sich bewegt: Ihrer Herkunft.

Sechs Jahre später treffe ich Julia, die nur für diese Geschichte so heißt, in Sankt Petersburg. Ich bin in einer journalistischen Ausbildung, sie ist auf der Suche nach ihren Wurzeln.

Julia

Erinnerungen als Folklore

Bevor ich mich den schwierigen Dingen zuwende, möchte ich mehr auf die Schätze in Julias Kiste lernen. Über das deutsch-russische Zentrum in Sankt Petersburg erfahre ich von einer Russlanddeutschen Folkloregruppe. Sie trifft sich jeden Donnerstag in einer Kirche in der Innenstadt. Als ich am Donnerstagabend in die weiß vertäfelte Kirche komme, sehe ich vier Frauen. Sie tragen keine typischen Trachten, wie sie mir im deutsch-russischen Zentrum auf Bildern gezeigt wurden, sondern konzentrieren sich ganz auf den Gesang.

Natalia Uralskaia, eine ältere Frau mit aschblond gefärbtem Haar sitzt wie die Kapitänin eines Schiffs an einem schwarzen Flügel. Am Ende des Instruments wärmen drei Frauen ihre Stimmen zu Uralskaias Tonleiterspiel auf.

Dann werden Hefte quer auf dem Flügel verteilt „Beliebte deutsche Lieder und einige Gedichte“ steht darauf. Auf der ersten Seite der Name der Autorin: „N. P. Kraubner (Uralskaia)“. Seit mehr als zehn Jahren veröffentlicht Natalia deutsche Gesangsbücher unter dem Namen ihres Großvaters – eines deportierten Russlanddeutschen. In einer Mischung aus Russisch und Deutsch erzählt sie wie das begann.

Folkloregruppe

Für Natalia Uralskaias Leben war die Verhaftungs- und Enteignungswelle 1937/38 durch Stalins kommunistisches Regime bedeutend. Doch da fängt die Geschichte der Russlanddeutschen nicht an, und dort hört sie nicht auf. Ich frage Julia, was sie über die Historie allgemein und über die Geschichte ihrer Familie im Speziellen eigentlich weiß.

Julia 2

Die letzte Zeitzeugin von St. Petersburg

Das Schweigen der Familie zieht sich durch Generationen. Bald wird es niemanden mehr geben, der die dunklen Jahre der Russlanddeutschen, ihre Verhaftung 1937/38 und ihre Deportation 1941/42, erlebt hat. Deshalb suchen Julia und ich die letzte Zeitzeugin in Sankt Petersburg auf, eine Frau, die wie Julias Großeltern aus Saratow an der Wolga stammt: Margarita Schulmeister.

Schulmeister Ankunft

Margarita Schulmeisters Wohnung ist von steriler Wärme. An der Wand Mustertapeten, am Boden gepflegtes Fischgrätenparkett. Schulmeister zieht ihre Schuhe aus, bevor sie das Parkett und ihre Hosen, bevor ein sie Stuhlpolster berühren können. Während ich nicht zu reagieren weiß, lacht Julia. Als Kind habe sie auch als erstes die Hosen ausziehen müssen. Es sei hier nicht wie in Deutschland, in Russland sei man sauberer, sagt Schulmeister und dirigiert uns ins Badezimmer um zwei Mal die Hände einzuseifen.

Dann nehmen Margarita Schulmeister und Julia nehmen an einem kleinen Tisch in Schulmeisters Wohnzimmer Platz. Links und rechts von Ihnen Schrankwände – prall gefüllt mit Büchern. Neben Ledereinbänden mit kyrillischen Buchstaben stehen Bildbände über den Schwarzwald und Unterhaltungsromane von Utta Danella. Und gerahmte Familienfotos.

Auch Margarita Schulmeister hielt ihre Erinnerungen an die Verhaftung ihres Vaters, ihre Deportation und die zermürbende Arbeit in der Trudarmee1 lange verschlossen. Jahrzehnte später – sie hatte geheiratet, einen Sohn geboren, ihren Mann zu Grabe getragen, den Sohn aus dem Haus gehen lassen – brachte sie Ihren Sohn für eine Reise an den Flughafen. Das Wetter war an jenem Tag so wild, dass der Flug immer und immer wieder verschoben wurde. Und da, sie kann sich selbst nicht erklären warum, öffnete sie die Kiste des Grauens vor ihrem Sohn. Seitdem hat sie nicht mehr geschwiegen. Sie sprach mit Zeitungen und Stiftungen, Schulkindern und Studierenden. Sie schrieb ein Buch „Mein Langer Weg. Ein Russlanddeutsches Leben“, das auf Russisch und Deutsch erschien.

Der Historiker Arkadij German aus Saratow hat ermittelt, dass in den Jahren 1941 und 1942 insgesamt 451.754 Wolgadeutsche zwangsumgesiedelt wurden. Andere Quellen gehen von bis zu doppelt so vielen Menschen aus. Aus Aufzeichnungen einiger von Ihnen entstand das Lied der Wolgadeutschen, dass Natalia Uralskaia mit der Folkloregruppe singt.

Das Lied der Wolgadeutschen

Voller Sehnsucht nach der Heimat

ist mein Herz hier ganz erfüllt

und in weiter, weiter Ferne

sich dein Bild von mir enthüllt.

Neunzehnhunderteinundvierzig

Kam das bitterböse Wort.

|: Und wir Deutschen von der Wolga

Mussten nach Sibirien fort. :|

Die endlose Reise

Für Margarita Schulmeister ist der Todestag Joseph Stalins ein Tag der Befreiung. Dabei waren die Repressionen gegen Russlanddeutsche lang nicht zu Ende.

Formal wurden sie erst 1964 rehabilitiert – und auch dann hatte die Verfolgung kein Ende. Sie blieben in der öffentlichen Wahrnehmung als Feind im eigenen Land gebrandmarkt. Und auch politisch: Noch 1976 leitete der Vorsitzende des Sowjetischen Geheimdienstes KGB, Jurij Andropow, eine Untersuchung der Russlanddeutschen Minderheit. Schon damals versuchten viele Russlanddeutsche ins Ausland zu ziehen.

Das Bundesvertriebenengesetz der Bundesrepublik Deutschland brachte wieder Bewegung. Es erlaubte Russlanddeutschen nach Deutschland zu ziehen – und sie kamen mehr als 2,3 Millionen Menschen, unter ihnen Julias Eltern. Sie erwarteten, wie viele Russlanddeutsche auch, eine Art nach Hause kommen. Sie waren zwar in der Sowjetunion aufgewachsen, dort aber immer die Deutschen gewesen. Nun in Deutschland, waren sie die Russen.

Auch die Kinder von Natalia Uralskaia zog es zurück nach Baden-Württemberg, dorthin zurück, wo im 18. Jahrhundert alles begann. Uralkaia hat ein Lied über das ewige Wandeln parat.

Guten Morgen Deutschland

Als ich Julia einige Tage später von der Metapher des Wüstenläufers erzähle, lächelt sie in sich hinein und denkt das Bild weiter.

Für sie wird klar: Auch wenn sie in Russland mehr über ihre Herkunft erfahren hat und erfahren wird – ein Ankommen ist noch nicht in Sicht.

1 |  | Das Wort Trudarmee ist aus dem Russischen und Deutschen zusammengesetzt und bedeutet in etwa „Arbeitsarmee“. Die Trudarmee war eine Form der Zwangsarbeit in der Sowjetunion, die vor allem die Menschen der bis dato Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen traf, aber auch Zugehörige anderer Minderheiten der Sowjetunion.

Pia Stendera

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