Den Sound Relief plante sie außerhalb der Stadt – ihr Zuhause aber ist „im Nest des Feindes“. Maria muss immer mehr Kompromisse für ihre Ideen machen. Und will eigentlich Utopien spinnen.
Auf einen Besuch im Staatskeller
Von
Helena Weise
D
Den Sound Relief plante sie außerhalb der Stadt – ihr Zuhause aber ist „im Nest des Feindes“. Maria muss immer mehr Kompromisse für ihre Ideen machen. Und will eigentlich Utopien spinnen.
Der Regen ist schon fast so dick wie Schnee, als Maria das rosa-farbene Tor öffnet, hinter dem sie sich ihr Zuhause aufgebaut haben. Das Gebäude mit dem abgeplatzten Putz sieht im Dunkeln noch vernachlässigter aus, Metalltüren verschwinden hinter Tags und Graffitis.
Sie führt durch den Keller, den sie ein halbes Jahr lang renoviert haben, den Gemeinschaftsraum mit Mischpult, den Raum, wo die Hacker*innen arbeiten, die Schlafräume. In der Küche kocht sie schwarzen Tee, setzt sich, zündet eine Zigarette an. Neben ihr sitzt ihr 12-jähriger Sohn, dem sie zwischendurch einen Kuss zuwirft.
„Ich habe fest damit gerechnet, dass die Polizei den Sound Relief räumen würde“, sagt sie. „Wir hatten Glück.“
Мусоp („musor“ ausgesprochen) sagt Maria, wenn sie über die Polizei redet. Umgangssprache für Müll. Auf Deutsch vielleicht gleichzusetzen mit „Bullenschweine“.
Worte wie diese durchsetzen ihre sonst akademische Sprache, in der sie Gegenwartsdiagnosen doziert, während draußen der Regen auf die Blechüberdachung trommelt. Sie strahlt eine eigenwillige Ruhe aus.
Dabei ist in dieser Stadt, für diese Frau, kein Ort von Verlass. Nicht die Baracke außerhalb der Stadtgrenze und auch nicht der Raum, in dem sie jetzt sitzt. Ein halbes Jahr Renovierungsarbeiten könnte von einem Tag auf den anderen umsonst gewesen sein.
„Wir sind bereit, den Raum hier jederzeit zu verlassen. Es könnte morgen sein, oder in einem halben Jahr. Aber ich hoffe, uns bleibt noch etwas Zeit.“
Sie sitzen im Nest des Feindes. So sagt sie es. Das Gebäude gehört dem Verteidigungsministerium, der Keller gemietet vom militärischen Jagdclub, dem sie beigetreten sind, um die Räume nutzen zu können. „Für die sind wir Künstler*innen“, sagt sie. „Und Künstler*innen sind Menschen, die auf Leinwände malen.“
Ist das noch Mimikry oder schon trojanisches Pferd?
Vorher wohnten sie in einem Gebäude des ehemaligen Forschungsinstituts für Porzellan und Keramik. Ein kreativer Raum für Hipster, wie Maria sagt, in dem sie Lesungen oder Raves veranstalteten. Doch nach den Massenprotesten im vergangenen Winter, bei denen auch Leute aus ihren Reihen verhaftet wurden, kontaktierte die Polizei den Besitzer. Kurz darauf stellte er Strom und Heizung ab. „Es war eine schwere Zeit für uns.“
Sie wollen sich trotzdem nicht verstecken, sagt Maria und zündet sich noch eine Zigarette an. Aber sie können es sich auch nicht mehr leisten, Veranstaltungen für 300 Leute zu machen. „Sonst werden wir zu ausländischen Agent*innen erklärt.“
Ausländische Agent*innen – das können alle sein, die auf irgendeine Art Geld aus dem Ausland oder von internationalen NGOs bekommen oder im Interesse ausländischer Geldgeber politisch aktiv sind. Zuletzt wurde eine Organisation, die sich für LGBTIQ-Rechte einsetzt, zum Agenten erklärt und damit unter anderem verpflichtet, Einnahmequellen offenzulegen.
Marias Gruppe schreibt deswegen auf Facebook nicht mehr, dass sie „LGBTIQ-friendly“ seien, ihre „Liga für lesbische Antalogien“ haben sie auch umbenannt. „Vor zwei oder drei Jahren mussten wir uns nicht um sowas kümmern“, sagt sie. „Aber jetzt merken wir: Wir brauchen eine neue Rhetorik, eine neue Sprache. Feminismus wird als staatswidrig erklärt.“
Wenn Feminismus staatswidrig ist, muss es auch Maria werden. Denn für sie ist er alles, sagt sie. Politik und Person.
Die Vierunddreißigjährige gibt sich im Gespräch viele Titel. Cyberfeministin. Xenofeministin. Anarchistin. Hinter diesen Titeln verbergen sich ganze Theorieberge. Ihr Reiz liegt für Maria aber vor allem darin: Utopien zu entwerfen, statt im Chaos des Hier und Jetzt zu versinken. Kunst, Technik und politische Botschaften verknüpfen. Diese neue Sprache, noch ist sie abstrakt genug, um unter dem Radar der Behörden zu bleiben.
Die vielen Bezeichnungen zeigen aber auch: Es gibt mehr feministische Strömungen als nach außen durchdringt. „Anarchofeminist*innen sind eben nicht auf TikTok“, sagt Maria. Da fänden Jugendliche nur Popfeminist*innen, die weder Staat noch Wirtschaft kritisierten – Liberale, die Gleichberechtigung zu einer Frage des eigenen Ehrgeizes erklärten. „Wir haben dem Popfeminismus viel zu verdanken“, sagt Maria. „Aber wir müssen uns davon abgrenzen, damit Feminismus in Russland nicht zu einem liberalen Nichts wird.“
Alla Mitrofanowa ist Marias theoretische Übermutter, die Frauen sind befreundet, arbeiten zusammen. Alla ist in der Theorie zu Hause, Maria in der Praxis. Man hört es ihr nicht an, aber der akademische Diskurs interessiert sie nicht. „Die Uni kommt später“, sagt sie. Erstmal müssten sie Räume schaffen, zu denen jeder Zugang habe und in denen sie auf Augenhöhe miteinander sprechen könnten.
Also unterstützt ihr Kollektiv Projekte, die genau diese Räume schaffen – und versuchen, sie so vom Staat fern zu halten. Denn Geld vom russischen Staat, so Marias Eindruck, macht jedes Projekte harmlos und unpolitisch. Das Sound-Labor, bei dem sie monatelang politische Klänge gesammelt haben, hat ein deutscher Verein unterstützt.
Abseits vom Staat, abseits vom Mainstream sitzt Maria vor den weiß verputzten Wänden ihres frisch renovierten Ministerialkellers und träumt von Anarchie. Diesmal, beim Sound Relief vergangene Woche, ist alles gut gegangen. Dass es beim nächsten Mal anders kommen könnte, nimmt sie in Kauf.