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RAF25

Vermutlich könnte man die russische Seele nicht mehr beleidigen als mit queeren Techno-Partys. Nach der dritten Razzia in zweieinhalb Jahren war es den Betreibern des RAF25 zu bunt. Drei junge Menschen erzählen von einer Welt, in der es immer nur Putin gab und immer geben wird und von ihren Versuchen, Russland ein Stück bunter werden zu lassen.

Von
Paul Christoph Gäbler

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Lang lebe die Russisch-Amerikanische Freundschaft!

Sie kamen um vier Uhr nachts, ohne Vorwarnung und ohne zu Klopfen, aber das brauchten sie auch nicht, denn die Bunkertüren des Clubs waren weit offen. Aus dem nichts standen etwa 50 Polizisten zwischen den Feiernden, Maschinenpistolen in der Hand, Hunde an der Leine und leuchteten mit Taschenlampen in die Gesichter der Umstehenden.
„Dawai, dawai!“, brüllten sie, „los, alles aus den Taschen holen!“ Sie hatten es auf Drogen abgesehen, natürlich. Die Strafen für deren Besitz sind hart in Russland, selbst geringe Mengen können einen 15 Jahre in den Knast bringen.
Während die Polizisten ihre Arbeit verrichteten, stellte sich ihr Hauptmann an die Bar und beäugte die Barkeeperin mit abschätzigen Blick. „Na los,“ sagte er. „Gib uns mal'n Bier, du Fotze!“

So erzählt es Kristina, 30 Jahre alt, kurze Haare, Piercings im Gesicht. „Das war im März 2021, die letzte offizielle Party hier im RAF25. Danach haben wir gemeinsam beschlossen, es zu lassen.“
Es ist Oktober in Sankt Petersburg, das Wetter ist nass und kalt, aber hier, tief unter der Erde, spielen Tages- und Jahreszeit ohnehin keine Rolle mehr.
RAF25, so erklären es Kristina und Mitgründer Philipp, das steht für „Russisch-Amerikanische Freundschaft“, und das 25 für die 25 Fuß, die der alte Bunker aus dem Kalten Krieg unter der Erde liegt.
Kristina läuft durch den Raum, es knirscht unter ihren Stiefeln, von den Wänden läuft das Wasser und sammelt sich in den Rinnen am Fußboden. Sie bleibt vor dem Wandgemälde einer jungen Frau stehen und bläst eine Dunstwolke in die Luft.
„Hier ist es immer kalt, egal ob Sommer oder Winter“, sagt Kristina. „Es gab nur zwei Möglichkeiten gegen die Kälte: Tanzen oder Ficken.“ Ihre Hand weist auf die verwitternden Darkrooms.

Vermutlich kann man die russische Seele nicht mehr provozieren als mit queeren Techno-Partys. So wie dem RAF25 ergeht es nahezu allen russischen Nachtclubs. Kooperieren sie nicht mit der Polizei, droht ihnen die Razzia. Und damit das Ende des Feierbetriebs.
Und so bleibt Techno in Russland etwas, was es in Deutschland längst nicht mehr ist: ein Aufbegehren gegen die Obrigkeit. Der Traum von einer anderen Gesellschaft, ohne Homophobie und Fremdenhass, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann.

Im „Kikis“ in der Sankt Petersburger Innenstadt tropft es von der Decke. Ein riesiger Eimer fängt das Wasser auf, bevor es den verstaubten Boden berührt. Rundherum herrscht Chaos. Wände werden bemalt, ein riesiger Elektroherd wird angeschlossen. An der Bar wischt Nastja – wasserstoffblonde Haare im Pagenschnitt – den Baustaub von den Gläsern. „Über uns, im Hostel, gab es einen Rohrbruch“, erklärt sie. „Wir haben längst Bescheid gesagt, aber die meinten nur: 'Ja, ja, wir kümmern uns'. Drei Tage ist das schon her. Typisch Russland!“
Es soll die neue Zuflucht des Kollektivs werden, nachdem es mit dem RAF25 vorbei war. Etwa zwei dutzend Menschen sind hier beteiligt, deutlich mehr als im alten Technobunker. Allerdings sind auch hier die Aufgabenbereiche größer. Es gibt eine Bar, eine Küche und auch eine kleine Tanzfläche.

Stühle werden zusammengeschoben und Tische gerückt. Das 25-köpige Komitee hat getagt, alle Entscheidungen hier werden gemeinschaftlich abgestimmt – auch die Frage, ob man einen Reporter aus dem Ausland Einblicke gewährt.
Die Blicke sind misstrauisch, man könnte ja sonst wer sein. „Die Polizei hat hier überall ihre Spitzel“ heißt es. „Deshalb wurden wir auch so häufig kontrolliert: weil wir eben die Polizei nicht in den Club gelassen haben und uns geweigert haben, das Schutzgeld zu bezahlen.“
Ein ungeheuerlicher Vorwurf, aber: „So läuft das hier in Russland. Leider.“ Wer diesen Satz gesagt hat, bleibt besser unerkannt.
Überprüfen lässt sich das schwer. Allerdings ist Korruption in der russischen Polizei keine Seltenheit. Erst im Sommer wurde bekannt, dass die Verkehrspolizei der Region Stawropol im Süden des Landes über Jahre Schutzgeld von Autofahrer und Truckern erpresste. Der Chef der Behörde lies sich mit dem Geld sogar seine Toilette vergolden.1

Doch aktuell gibt es Drängenderes: das Corona-Virus. Schon seit Wochen gehen die Inzidenzen in Russland steil bergauf, die Impfkampagne der russischen Regierung kommt nicht in die Gänge. Gerade einmal ein Drittel der Bevölkerung sind geimpft, dazu ist die russische Gesellschaft in der Bewertung des Gesundheitsrisikos gespalten.2 Ein Viertel der Bevölkerung gab an, dass sie den Medien bezüglich des Coronavirus keine Glauben schenken würden.3 Ganze 61 Prozent halten das Coronavirus gar für eine biologische Waffe.4 Und so droht dem „Kikis“ auch direkt wieder die Schließung.
Ende Oktober geht das Land wieder in den Lockdown, aber: „Wir sind hier in Russland. Hier gibt es immer einen Weg“, sagt Nastja.

Sie alle drei – Kristina, Philipp und Saskja haben kein Problem damit, mit der Öffentlichkeit zu brechen. Es gäbe nichts, was sie dem russischen Staat abgewinnen können, dessen autokratische Führung sie ablehnen. „Wir kennen alle nur Putin.“, sagt Philipp. „Er war schon immer da und wird vermutlich auch immer bleiben.“ Und danach? „Wer weiß das schon.“

Es war in Berlin, wo Philipp der Blitz durchzuckte. Er ist 16, das erste Mal weit weg von Russland, als sich die Sonne sanft über den Horizont mühte, die Köpenicker Straße in Kreuzberg in rosa Licht hüllte und ein riesiges Grafitti bestrahlte: „Die Grenze verläuft nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen mir und dir“. Philipp sagt, er habe noch nicht gut genug Deutsch gesprochen, machte aber ein Foto und lies sich den Spruch übersetzen. „Seit dem Tag wusste ich, dass ich etwas in der Welt verändern möchte.“
Das Graffiti ist heute verschwunden. Stattdessen prangt dort Werbung für einen Sportartikelhersteller. Auch Philipp kehrte nochmal nach Deutschland zurück, zum Auslandsemester nach Köln, Freie Kunst. Es ist das Jahr 2014 und Russland besetzt die Krim. „Alle haben sie sich abgewandt von Russland“, sagt Philipp. „Damals dachte ich: warum bleib' ich nicht einfach hier?“

Zurück im RAF25, in dessen gähnende Stille man noch den Bass vergangener Partys meint zu hören, betrachtet Kristina immer noch das Wandbild der jungen Frau.
Es ist Alexandra Kollontai, die erste Frau der Welt, die ein Ministeramt bekleidet und nach der Revolution 1917 mit der Zarenherrschaft brach. Ihr Vorstellungen zur Rolle der Frau und zur Sexualmoral waren ihrer Zeit weit voraus. „Nicht die sexuellen Beziehungen bestimmen das moralische Ansehen der Frau, sondern ihr Wert im Arbeitsleben“, war ihr Leitspruch. In Russland gilt sie bis heute als feministische Ikone. „Ein Vorbild“, sagt Kristina. Und macht das Licht aus.

1 |  | https://www.bbc.com/news/world-europe-57914270

2 |  | https://ourworldindata.org/covid-vaccinations?country=OWID_WRL

3 |  | https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/307909/umfrage-coronavirus-pandemie-20-26-februar-und-19-25-maerz-2020

4 |  | https://de.rt.com/russland/126544-corona-umfrage-61-prozent-russen

Paul Christoph Gäbler

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