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Wir singen deine Lieder

Zenit St. Petersburg, das ist doch der Verein mit den rassistischen Hooligans und der Gazprom-Kohle. Stimmt. Doch im Kleinen singt und kämpft Susanne Brammerloh aus Niedersachsen dagegen an — im Fanchor „Der singende Kern“.

Von
Joshua Kocher

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Sie werden von Ruhm und Courage singen, vom Schicksal und ja, vom Leben und vom Tod. Sie werden sich anbrüllen, Zenit in der Kellerkneipe ihre ewige Treue schwören und später mit Bengalos in der Hand durch einen Hinterhof hüpfen und eine komplette Feuerwerksbatterie verballern.

Doch erstmal tackt ein Metronom auf dem Couchtisch. Tak, tak, tak. Susanne Brammerloh, eine kleine Frau mit kurzem Pony, steht daneben, atmet ein und singt: „Mi, sol, si, sol, mi“. Die russischen Tonleiter. Um sie herum stimmen die Männer in tiefen Tönen ein: „Sol, si, re, si, sol“.

Schön singen wollen die Frauen und Männer des Petersburger Fan-Chors „Der singende Kern“. Mit ihren Liedern kämpfen sie gegen das Klischee ihres Vereins als millionenverwöhntes Gazprom-Konstrukt an, das Singen als Rückbesinnung auf die 100-jährige Vereinsgeschichte.

Susanne Brammerloh geht es noch um etwas, auch wenn sie das selbst nie so sagen würde: Sie will den rassistischen, homophoben und frauenfeindlichen Sprüchen der Hooligans aus der Kurve im Kleinen etwas entgegensetzen. Auch im Chor grätscht sie dazwischen, wenn einem der Jüngeren mal ein dummer Spruch rausrutscht. Susanne Brammerloh gegen den Rassismus im russischen Fußball.

Eine Stunde vorher stieg Susanne Brammerloh in Avtovo aus der Metro, einem Arbeiterviertel im Süden St. Petersburgs, dieser gigantischen Stadt mit ihren fünfeinhalb Millionen Einwohnern, den Straßenschluchten und dem grauen Wasser der Newa. Brammerloh ging durch die Torbögen alter Stalin-Wohnblöcke und dann in einen Hinterhof, wo eine Glühbirne schwaches Licht auf ein paar Treppenstufen warf. Sie schob eine Holztür auf, lief vorbei an einem Friseursalon und stand plötzlich in einem Raum, der aussieht wie der Sportschau-Keller eines deutschen Rentners; mit Fußballschals, blauen Leuchtröhren, Pokalen, Bällen und Wimpeln, Fotos von Auswärtsfahrten, Erinnerungen an vergangene Zeiten.

Susanne Brammerloh klatschte mit Lida ab, der Wirtin des Ladens, den sie einst auf den Namen „Fint“ taufte, sie bestellte ein Bier vom Fass und lief weiter in einen Nebenraum zu Dima, Igor, Andrej, Ksjuscha und den anderen Männern und Frauen.

Dort steht Susanne Brammerloh jetzt, vor einer Fahne mit dem Konterfei der Klublegende Alexander Kerschakow und singt die Tonleiter. Die Stimmbänder braucht es an diesem Abend, denn es steht ein besonderes Spiel an, für das sie sich vorbereiten müssen: das Derby gegen Spartak Moskau.

„Es gibt in der Welt keinen besseren Verein. Wir werden mit dir durch Jahre und Kilometer gehen. Mannschaft der nördlichen Hauptstadt, wieder singen wir dir dieses Lied.“

Seit 13 Jahren gibt es den Fan-Chor, weil viele der Männer und Frauen damals fanden, die Ultras und Hooligans aus der „Virage“, der Kurve grölten nur heiser. Sie nannten sich „Der singende Kern“ und formulierten damit

zugleich ihren Anspruch: Sie wollen mindestens die Tribüne zum Singen bringen, noch besser aber das ganze Stadion mit inzwischen fast 70.000 Menschen.


Sie wollen Zenit laut und schön unterstützen, so stand es zumindest in der Annonce, die Susanne Brammerloh Anfang der 2000er in der Vereinszeitschrift „Unser Zenit“ entdeckte. Damals lebte die heute 60-Jährige aus Verden-Aller in Niedersachsen bereits ein paar Jahre in St. Petersburg, die Stadt, in deren Literatur und Geschichte sie sich im Studium verliebt hatte. Die rauschende Newa, die Newski-Prachtraße, das fand sie genauso vor wie in den Büchern beschrieben. Als Petersburger Korrespondentin für die deutschsprachige Online-Zeitung „Russland aktuell“ ging sie ab und zu ins Petrowski-Stadion, der ehemaligen Spielstätte von Zenit.

Sie erwischte sich bald dabei, wie sie in der Presseloge bei den Toren am liebsten gejubelt hätte und wünschte sich, Teil einer Fangruppe zu werden, mit der sie jede Woche die Spiele anschauen könnte. Sie sehnte sich nach Gemeinschaft, nach geteilten Glücksgefühlen und Zugehörigkeit. Bald nachdem sie die Annonce gelesen hatte, stand Brammerloh im elften Block unter einem der großen Flutlichter und sang die Lieder des Vereins, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte.

Inzwischen fällt es ihr schwerer, die Liebe zu Zenit am Leben zu erhalten. Seit der Übernahme durch den Energiekonzern Gazprom kam zwar der Erfolg, immerhin konnten die Manager plötzlich Spieler wie den Brasilianer Hulk oder den Belgier Axel Witsel kaufen, beide für mehr als 40 Millionen Euro. Auch ein neues Stadion klotzten sie in die Landschaft, für sage und schreibe eine Milliarde Euro. Doch der vor gut 100 Jahren gegründete Arbeiterverein aus der Leningrader Metallfabrik habe ein Stück seiner Seele verloren, sagt Brammerloh.

„St. Petersburg ist unsere Stadt für immer. Ihre Erde bewacht der beste Club der Welt. Sein stolzer Name ist Zenit St. Petersburg.“

Es ist voll geworden im Proberaum, zwölf Menschen singen mit, ihre Gesichter werden von LED-Streifen schlumpfblau beleuchtet, die Arme reißen sie zur Decke, aus der JBL-Box auf dem Couchtisch tönt die Melodie.

Ihre Lieder sind die klassischen, plumpen Lobeshymnen, sie sind massentauglich für das Stadion und, das muss man eingestehen, nicht unbedingt Hochkultur. Doch Brammerloh und ihre Chor-Freunde nehmen ihre Aufgabe ernst. „Das war schwach“, sagt Dima, einer der markantesten Sänger, „das Haus hat gar nicht gezittert, die Nachbarn sind noch nicht wach.“

Sie singen auf Fan-Festen, manchmal zusammen mit Rock-Bands, doch seine wichtigsten Auftritte hat der Chor im Stadion. Dort herrsche, sagen sie ganz unbescheiden, dank ihnen die beste Stimmung im ganzen Land. Ihr Verein vergleicht die Heimspiele auf seiner Website mit denen der Boca Juniors und der Glasgow Rangers.

Doch die Zenit-Fans fallen nicht nur durch lautstarken Support auf, sondern immer wieder auch durch rassistische Eklate. Der größte Fanclub des Vereins veröffentlichte 2012 zum Beispiel ein Manifest, in dem er forderte, dass Schwarze Spieler aus dem Verein verbannt werden. Als 2019 der Brasilianer Malcom von Barca zu Zenit wechselte, hielten die Ultras bei seinem Premierenspiel Banner hoch, auf denen sie sich hämisch bei der Clubführung für die „Loyalität zu Traditionen“ bedankten. Auch homophobe und frauenfeindliche Lieder hört man immer wieder in der Kurve.

Susanne Brammerloh war deshalb seit zwei Jahren nicht mehr im Stadion — sie hat keinen Bock mehr auf dumme Sprüche. Sie sagt, sie sei sensibel bei dem Thema, da habe sie schon ab und zu richtig Krawall gemacht, auch im Umfeld des Chors. Doch so richtig möchte sie nicht darüber sprechen, weil sie befürchtet, dass das genau in den „unguten deutschen Mainstream“ passt, in dem alles in Russland schlecht sei.

Der Weg zu dem Stern, der am Himmel heller scheint als die Anderen, ist von der dunklen Macht verhüllt, doch er ist der Mühe wert.

Die ganze Fußballwelt wird unseren Jubelruf im Himmel hören. Die Machenschaften der Feinde werden uns nur reizen.

Und alle zusammen! Zu jenem Stern!

Werden wir gehen!

Für St. Petersburg!

Das Warm-Up des Chors endet mit einer Nachricht im Telegram-Chat. Igor hat einen neuen Liedtext rumgeschickt, den sie zum Schluss ihrer Probe üben wollen. Einer der Sänger klemmt sein Handy in ein Stativ und drückt den Aufnahmeknopf, sie filmen ihren letzten Auftritt für Konstantin, Mitgründer von Zenits ältester Ultra-Gruppe „Lok 33“. Der hat Geburtstag und dichtete vor ein paar Jahren ein Lied, das sie jetzt erstmals einsingen.

Doch es läuft noch nicht rund. Nach dem ersten Versuch fragt Susanne Brammerloh, ob sie nicht vor dem Refrain auf die kurze Pause verzichten wollen. Die Männer reden auf sie ein, sie finden es brauche die Pause, damit der Refrain besser zur Geltung komme. Der zweite Versuch klingt schon besser, doch als sie das Video anschauen, merken sie, dass einer von ihnen falsch gesungen hat. An einer Stelle lautet der Text: „ In flinken und geübten Beinen, stürmt Zenit zum Tor.“ Doch irgendjemand sang „Hosen“ statt „Beinen“. Sie prusten los. Beim dritten Mal klappt dann alles.

Nach einer Dreiviertelstunde sind ihre Kehlen ausgetrocknet. Die Männer und Frauen laufen rüber, zu Lida an die Theke.

Später am Abend, sie haben noch ein wenig gefeiert mit einem ausgedehnten Quiz-Abend und einigen Runden Schnaps, ziehen sie ihre Jacken an, schnappen sich eine Plastiktüte und laufen in einen Hinterhof. Igor und ein Kumpel rollen ein Banner aus, spannen es zwischen ihren Händen und holen Feuerzeuge heraus. Die anderen Jungs ziehen Bengalos und Wunderkerzen aus der Tüte, einer zündet eine Feuerwerksbatterie an. Dann leuchten die Rückwände der Häuser, es knallt und zischt, sie hüpfen wie kleine Kinder durch das Herbstlaub und kreisen die Arme. Sie grölen ihre Lieder, jetzt klingen sie mehr nach Stadionkurve. Susanne steht ein paar Meter entfernt, schaut zu und schmunzelt.

Zwei Tage später erhebt sich Susanne Brammerloh in einer Fan-Kneipe in der Dumskaja-Ulica von ihrem Stuhl. Sie strafft ihren Zenit-Schal zwischen den Händen und schaut ihren Begleiter Dima an. Der steht auch auf und spätestens jetzt sind ihnen alle Blicke in der Bar sicher. Grinsend setzen sie an:

„Wenn dein Gegner Spartak heißt, vergiss nicht die Attacke. Hamburg und Rapid, alle werden geschlagen, von unserem lieben Zenit.“

Fünf Minuten lang, eine gefühlte Ewigkeit, singen sie die Vereinshymne. Die anderen Gäste in der Kneipe betrachten sie erst verwirrt, am Ende klatschen sie und prosten mit den Bierkrügen zu. Da steht es schon 1:0 für Zenit.

Während des Spiels hören sie immer wieder ihre Chor-Kollegen aus der Kurve singen, Susanne Brammerloh stimmt jedes Mal mit ein. Bald singt auch ein junger Kerl am Nachbartisch mit, er trägt Basecap, einen Lonsdale-Pulli und einen kleinen goldenen Anstecker auf der Brust. Sie klatschen sich ab und stoßen ihre Krüge an. 4:0 führt Zenit zur Halbzeit, die Laune ist gut.

In der Halbzeit erzählt Dima dem Kerl am Nachbartisch, dass Susanne Brammerloh und der Reporter aus Deutschland kommen. Da rückt er ein Stück näher und nach ein bisschen Small-Talk rutscht ihm ein „Sieg heil“ heraus. Susanne Brammerloh schaut ihn böse an und sagt: „Mach das nie wieder!“ Er entschuldigt sich und erzählt, dass er später zum 16-vs.-16-Kampf in ein Waldstück fahre, um sich mit Spartak-Hooligans zu prügeln.

Die zweite Halbzeit rauscht in frostiger Stimmung an Susanne Brammerloh vorbei, dabei fallen noch vier weitere Tore zum Endstand von 7:1. Sie trinkt ihr Bier aus und schreibt später auf WhatsApp, der Abend sei etwas seltsam gewesen, der Freitag, mit der Chor-Probe, habe ihr deutlich besser gefallen.

Joshua Kocher

In der Ecke des Proberaums auf einem ranzigen Sofa sitzend, das Licht schummrig und die Gesänge laut, empfand Joshua Kocher Bewunderung. Für Übersetzerin Katja, die sich unentwegt Notizen in ihr Büchlein kritzelte und zwei Tage später jedes Lied des Fanchors übersetzt, formatiert und mit Anmerkungen versehen ablieferte. Ohne Katja hätte er kein Wort verstanden.

Joshua Kocher

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